Die letzte Prophezeiung: Thriller (German Edition)
interpretiert. Ein naiver Wunschtraum, der nicht lange vorhielt. Die Russen hatten die Katastrophe schlichtweg geheim gehalten, bis die Norweger darauf aufmerksam wurden, weil sie als Erste von der radioaktiven Wolke heimgesucht wurden.
Die Ermahnung des Meisters half ihr einige Jahre später, als sie begriff, dass die zweite Katastrophe bevorstand: Sie schaffte es, die Last dieses Wissens stumm zu ertragen, und rief ihn nicht an.
Nun war ein neues Zeichen eingetroffen: Die Novizin
sah
, wie Johannes, und sie
wusste
. Und
schrieb
.
Mutter Valeria setzte sich aufs Bett, nahm wieder das Heft zur Hand und las lange darin, wobei sie es vorsichtig, voller Ehrfurcht, durchblätterte. Es hatte einen schwarzen, festen Einband, das Papier war dünn, liniert, wie ein Heft für Schreibübungen. Es duftete nach alten Papierwarenläden, nach Kreide und Schiefer.
Sie hatte Mühe, ihre Nervosität zu zügeln. Der Meister hatte noch nicht angerufen, obwohl der am Vortag vereinbarte Termin schon mehr als sechs Stunden überfällig war. Das war noch nie vorgekommen. Ausgerechnet jetzt, da sie ihn hätte sprechen und informieren wollen, da sie Rat suchte.
Nervös fingerte sie an dem schnurlosen Telefon ihres Privatanschlusses herum, das in der Tasche ihrer Schwesterntracht steckte. Aber der Apparat schwieg unbarmherzig.
Während sie die Seiten umblätterte, dachte Mutter Valeria darüber nach, wie wenig sie die Durchsuchungen der Zelle derNovizin mochte, die sie zur ihrer Nachfolgerin ausersehen hatte. Eine regelrechte Verletzung der Intimsphäre einer Person. Aber die Regel erlegte ihr das auf: die Rolle zu bewahren und zu schützen, um jeden Preis, auch um den Preis, sich heimlich Zugang zu den intimen Geheimnissen einer Mitschwester zu verschaffen. Der Zweck, wenn heilig, heiligt auch die Mittel, selbst die verwerflichsten.
Ein kleiner Käfer unterbrach ihre Grübelei. Er krabbelte hastig über den Boden der engen Zelle, wobei er mit Ach und Krach die Fugen zwischen den Tonfliesen überwand.
Er hat sich verirrt und sucht nun Unterschlupf, dachte sie. Wie ich, im Grunde. Und mein Leiden lässt mir nicht viel Zeit, ich muss mich sputen.
Sie erhob sich mit einem Ruck vom Bett der Novizin, gerade als das Insekt unter dem Nachtschrank verschwand. Zum x-ten Mal schloss sie das Heft und legte es peinlich genau wieder an die Stelle, an der sie es gefunden hatte, zwischen die Lagen der Winterdecke. Dann nahm sie erneut das Telefon hervor und kontrollierte zum soundsovielten Mal, ob es auch wirklich angestellt war. Warum rief der Meister nicht an?
Nun ging sie an die Inspektion der Nachttischschublade und fand zwischen den Kringeln des hölzernen Rosenkranzes, verknittert und zusammengeknüllt, das Blatt, das sie am Vorabend an den Chor verteilt hatte. Es war die vierstimmige Partitur des
Dies Irae, Dies Illa
, für die ersten Proben der Einzelstimmen. Neugierig geworden, entfaltete sie die Kugel. Diese Unordnung, diese Schlamperei passten nicht zu der Novizin.
Auf der Rückseite fand sie eine mit zittriger Hand geschriebene Notiz: »Ich sah den letzten irdischen Flug meines Erzengels.«
Mutter Valeria lief es eiskalt den Rücken hinunter. Diese Worte waren in dieser Nacht geschrieben worden, kein Zweifel.
Sie nahm das Telefon und tippte die Nummer des Hotelsein, ihre Finger zitterten so stark, dass sie nur mit Mühe die richtigen Tasten traf.
Beim dritten Läuten antwortete die warme, freundliche Stimme eines Mannes, der fragte, womit er dienen könne.
»Guten Abend«, sagte sie aufgeregt. »Ich würde bitte gerne mit Herrn Professor Molteni sprechen.«
In der kurzen Pause, die folgte, spürte sie deutlich das Unbehagen ihres Gesprächspartners.
»Wer möchte ihn sprechen?«
Die Stimme war abweisender geworden, und sie versuchte schnell, diese Barriere des Misstrauens zu überwinden, die der Hotelportier errichtet hatte. »Ich bin die Hausmeisterin seines Ferienhauses. Ich muss dringend Kontakt zu ihm aufnehmen.«
Wieder herrschte ein äußerst verlegenes Schweigen. »Ich verstehe, Signora, aber der Herr Professor ist … nicht da.«
»Hat er das Hotel gewechselt?«, fragte sie erschrocken. Sie hörte, wie ihre Stimme bebte.
»Nein«, antwortete der Mann nach ein paar Sekunden. »Es ist ein furchtbares Unglück geschehen.«
»Was für ein Unglück?«
»Er hat sich das Leben genommen. Gestern. Hier in unserem Hotel.«
Das Telefon fiel zu Boden, der dumpfe Schlag zerriss für einen Augenblick die klösterliche
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