Die letzte Reifung
verpackt und mitgenommen hatte, war dem Professor ein Rätsel.
Eines von vielen.
Hätten sie allerdings alles mitgenommen, wäre es Emanuelle niemals geglückt, die Käserezeptur zu finden und die Produktion am Laufen zu halten. Vielleicht war das der Grund. Franzosen war guter Käse einfach wichtiger als die Aufklärung eines Mordes. Was der Professor grundsätzlich auch gut verstehen konnte – nur in diesem besonderen Fall nicht.
»Komm, Adalbert. Putzen!«, rief Emanuelle.
Der Professor griff sich kurzerhand das kleine Büchlein und ging in die Abstellkammer. Jetzt würde er ein paar Minuten haben, denn Emanuelle wusste, wie ungeschickt er sich dabei anstellte, alle Putzmittel herauszusuchen.
Er schlug schnell den Terminkalender auf. Monsieur Vesnins Handschrift war säuberlich und wunderbar zu lesen, doch leider benutzte er fast ausschließlich Kürzel. Es gab nur wenige Einträge – typisch für Menschen, die viele wöchentlich wiederkehrende Termine hatten, für die sie keine Gedächtnisstütze brauchten. Der Professor blätterte rasch weiter, um etwas Hilfreiches zu finden. Vielleicht einen Hinweis auf Béatrice Leroy, auf Madame Poincaré, auf den Bürgermeister, auf Gérard, Frombel, Benoit, auf irgendeinen der Verdächtigen. Doch nichts. »B« mochte Béatrice sein, doch es konnte auch für so vieles andere stehen.
»Adalbert! Wo bleibst du? Tempo!«, rief Emanuelle.
Natürlich konnte er das Notizbuch einfach mitgehen lassen, doch das wäre Diebstahl. Und so etwas tat ein Kulinaristik-Professor nicht. Er blätterte abermals die letzten Wochen vor dem Mord durch. Nichts. Kürzel über Kürzel. Um eines war ein Herz gemalt – dabei war Monsieur Vesnin ja verheiratet gewesen. An anderer Stelle fanden sich die Buchstaben HP. Sie standen vermutlich für Hervé Picard, den Dijoner Affineur, und nicht für den braunen Saucenklassiker aus England. Dass die beiden sich trafen, war nichts Ungewöhnliches, schließlich machten sie Geschäfte miteinander.
»Adalbert!«
Er musste.
»Ich komme …«
Ein letzter Blick noch, nur noch einer! Dieser traf ein Wort, das dem Professor bereits zuvor aufgefallen war. Pont-l'Évêque. Ein Kuhmilchkäse und gleichzeitig ein Dorf in der Normandie. Das Wort war am 1.Juni eingetragen, darüber ein großes »LC«. Der Professor blätterte zurück. Am 1. Mai fand er wieder das »LC« und darunter Banon. Ein Weichkäse aus Ziegenmilch, in Esskastanienblätter eingewickelt. Und der Name des Dorfes in der Provence, wo der Banon seinen Ursprung hat.
So ging es weiter.
Am Ersten jeden Monats fand sich die legendäre Heimat eines französischen Käses.
Plus das Kürzel »LC«.
Der Professor hatte ein gutes Gedächtnis. Seine Studenten klagten darüber, dass er nie etwas vergaß, selbst wenn es Jahre zurücklag. Er speicherte alle Informationen ab, und da in seinem Kopf große Ordnung herrschte, fand er sie auch wieder, wenn er sie brauchte.
Genau deswegen durchfuhr ihn nun ein Schauder.
Der Professor erinnerte sich an Folgendes: Er hatte lange versucht, einen Termin bei Madame Poincaré zu bekommen. Dabei hatte es immer ein Datum gegeben, das sie kategorisch ausgeschlossen hatte.
Den Ersten eines jeden Monats.
Der Professor blätterte ein letztes Mal. Diesmal zum Ersten des nächsten Monats, dem Juli. Und tatsächlich. Auch an diesem fand sich in Monsieur Vesnins Terminkalender ein Eintrag mit »LC«. Und die Käsestadt darunter war selbst Erstsemestern ein Begriff.
Camembert.
Der Tag in der Käserei war hart gewesen. Am Ende kam sich der Professor wie ein alter Ackergaul vor, der seinen Pflug durch ein gefrorenes Feld gezogen hatte. Anschließend war er noch aufs Polizeirevier zitiert worden, wo man ihm ausgiebig die Leviten gelesen hatte. Ohne einen Anruf seines hochbezahlten Hamburger Anwalts hätten sie ihn vermutlich für einige Zeit dabehalten.
Die Aussicht, den Abend unter einer alten Buche sitzend und mit einem Glas Wein in der Hand ausklingen zu lassen, war deshalb wunderbar.
Mit Jules Bigot, dem korrupten Bürgermeister von Epoigey, als Tischnachbarn. Auch wenn der noch nichts von seinem Glück wusste.
Sommerabende im Burgund waren zauberhaft. Die warme Luft wehte von den Weinbergen herüber, die Grillen zirpten, als wollten sie ein Konzert geben, und die Trauben wurden immer praller.
Der Professor stellte sein Rad auf dem Dorfplatz ab, dessen Wiese durch das Käsefest wie verwüstet war. Benno von Saber sprang aus seinem Korb und versuchte, irgendwas
Weitere Kostenlose Bücher