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Die letzten Tage von Hongkong

Die letzten Tage von Hongkong

Titel: Die letzten Tage von Hongkong Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: John Burdett
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etwas Abenteuerliches unternommen, und das war, als sie nach Hongkong gegangen ist – allerdings nur, weil ihre große Schwester schon dort war. Sie ist zu Fuß gegangen. Das haben damals viele gemacht. Sie haben in der Nähe der Grenze kampiert und versucht, sich nicht von den Soldaten entdecken zu lassen, und wenn dann die Nacht kam, sind sie auf den Grenzzaun losgerannt. Sie wußten, daß ein paar von ihnen dabei umkommen würden. – Eine Kugel in den Rücken, von der Volksbefreiungsarmee, aber die meisten schafften es. Die Briten sind auch alles andere als sanft mit ihnen umgesprungen. Sie haben sie wieder zurückgeschickt, wenn sie sie in der Nähe der Grenze erwischt haben, aber sie hatten eine Regel, eine von diesen merkwürdigen britischen Regeln, fast wie in einem Spiel in der Schule. Wenn sie’s bis nach Hong Kong Island und zur Einwanderungsbehörde schafften, konnten sie bleiben. Und sie blieb. Das kleine, runde Chinesenmädchen mit dem Mondgesicht hat das erreicht, was Härtere nicht geschafft haben.«
    Chan stand schweigend vom Sofa auf, um seine Benson and Hedges zu suchen. Als er sich wieder setzte, glättete er den Stoff über Moiras Brüsten. Sie hielt seine Hand. »Erzähl weiter.«
    Er blies den Rauch aus. »Nein, das ist nicht interessant für dich. Du wolltest eine andere Geschichte hören, eine Geschichte voller Sex und Qualen.«
    Sie ließ seine Hand los und legte die ihre auf seinen Oberschenkel. »Das stimmt nicht. Du sprichst von deiner Mutter, stimmt’s? Du darfst nicht vergessen, daß ich selbst eine Mutter bin. Besser gesagt, war. Mütter haben heutzutage keinen besonders hohen Stellenwert mehr. Es tröstet zu wissen, daß manche Männer noch Leidenschaft für die Frau empfinden, die ihnen das Leben geschenkt hat.«
    Chan hörte, daß es ihr die Kehle zuschnürte. Er drückte ihre Hand. »Tut mir leid, ich bin egoistisch. Du bist diejenige, die leidet.«
    »Ich finde es beruhigend, dir zuzuhören. Und es ist keine Geschichte, die ich schon mal gehört habe.«
    Er nahm einen langen Zug aus seiner Zigarette und stippte die Asche über dem Aschenbecher ab. »Mai-mai hat zusammen mit ihrer Schwester eine Weile in einer Hütte gelebt, bis sie Paddy kennenlernte. Eigentlich heißt er nicht Paddy, ich stelle ihn mir nur immer als Paddy vor. Ich glaube, er hat sie wirklich geliebt, wie ein Schwein seinen Gegenpol eben lieben kann. Sie hat ihm geglaubt, als er ihr erzählt hat, daß er während der Woche in der Nacht arbeiten muß und nur am Wochenende mit ihr Zusammensein kann. Für sie klang das plausibel, weil chinesische Männer es so machten. Natürlich hat er sich in Wanchai mit anderen Frauen rumgetrieben, aber die Beziehung zu dem kleinen Mädchen mit dem Mondgesicht, das ihn so verehrt hat, war ihm wichtig. Zuerst kam ich auf die Welt, drei Jahre später Jenny.
    Dreizehn Jahre später ist Paddy dann eines Tages einfach verschwunden. Mai-mai hat Depressionen bekommen. Niemand hatte sie je so erlebt. Sie hat sogar vergessen, uns etwas zu essen zu geben, und so mußte ihre Schwester diese Aufgabe übernehmen. Irgendwann ist sie dann zu dem Schluß gekommen, daß diese großen, rotgesichtigen Menschen mit den runden Augen in Wirklichkeit Teufel sind, genau wie es alle sagten. Sie hatte ihr Heimatdorf verlassen, um ins Land der Teufel zu gehen. Also kehrte sie zurück. Wieder zu Fuß. Irgendwie ist es ihr gelungen, an den Grenzposten vorbeizukommen. Wahrscheinlich haben die nicht mit jemandem gerechnet, der wieder zurück nach China wollte.
    Als sie in ihr Heimatdorf kam, wimmelte es dort nur so von Rotgardisten. Chinas zweiter Bürgerkrieg in diesem Jahrhundert, besser bekannt unter der Bezeichnung Kulturrevolution, stand kurz vor dem Ende. Um an der Macht zu bleiben, hat Mao Tse Tung seine eigenen Leute gegeneinander aufgehetzt, die Jungen gegen die Alten, den Bruder gegen den Bruder, den Schüler gegen den Lehrer, die Frau gegen den Mann. Es war eine richtige Haßorgie im chinesischen Stil. Aber für manche Menschen außerhalb Chinas war es ein mutiges sozialistisches Experiment. Klugen Männern und Frauen aus Europa und Amerika wurde so etwas wie ein Walt-Disney-China vorgeführt, wo alles wunderbar war und alle Menschen lächelten.
    Das richtige China sah eher so aus wie Mai-mais Dorf, wo sie sie verhafteten und behaupteten, sie sei ein kapitalistischer Spitzel. Sie haben ihr eine Narrenkappe aufgesetzt und sie durch die Straßen gescheucht. Rotgardisten in ihrem Alter, manche sogar

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