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Die Lichtfaenger

Die Lichtfaenger

Titel: Die Lichtfaenger Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Elmar Bereuter
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zweistöckige Gebäude war eigentlich ein wüster Bretterverschlag, den einige Studenten vor ein paar Jahren zusammengezimmert hatten und der nur durch den stetigen kämpferischen Einsatz der Bewohner vor dem endgültigen Kollaps bewahrt werden konnte. Eines der vielen Probleme der Behausung bestand in der Innenbeleuchtung beziehungsweise deren vollständigem Fehlen. Aber auch in dieser Hinsicht wusste sich George Lincoln zu helfen: Sein Chemielehrer gestattete ihm, nächtens im Schein einer im Labor installierten Gaslampe seine Studien fortzuführen.
    Mit der Bibliothek war er inzwischen so vertraut, dass er selbst in völliger Finsternis jedes gewünschte Buch fand, und sein beinahe fotografisches Gedächtnis für Bücher war schon Legende. Die Nennung eines Titels ließ in seinem Kopf eine Reaktion ablaufen, die an eine Sortiermaschine erinnerte. Vor seinem inneren Auge tauchte zuerst der Einband auf, die Stärke des Werkes mit der Titelschrift und dann der Standort in der Bibliothek. Reynolds? Schwarzer Leinendeckel, Schrift rot, Type Britannica, Maße ungefähr zweiundzwanzig mal fünfzehn Inches, viertes Regal von hinten, fünfte Reihe oben links, von dort sechzehntes oder siebzehntes Buch. Bücher waren sein Leben, sie waren es, die ihn dazu bewogen hatten, zuerst den Beruf eines Druckers zu erlernen. Da saß er sozusagen an der Quelle, erfuhr das Neue noch vor den anderen, die Arbeit des Setzens war für ihn keine stupide und langweilige Tätigkeit wie für manche, die sie nur als stumpfsinniges Aneinanderreihen von Buchstaben
    betrachteten. Diebisch freute es ihn, wenn er einem sperrigen Satz eine elegante Form verpasste, ohne dass es dem Verfasser auffiel. Es gab zwar kaum etwas, was ihn nicht interessierte, aber wenn er etwas über europäische Geschichte in die Finger bekam, war es um ihn geschehen. Das war schon so, seit er lesen konnte, und er erinnerte sich immer noch an seinen ersten »Smith« über die Geschichte Griechenlands zu seinem sechsten Geburtstag.

    Andrew Dickson White hatte vor Jahren damit begonnen, eine Bibliothek aufzubauen, wobei der größte Teil der Sammlung weitgehend ungeordnet in Syracuse deponiert war. Burrs Herz machte einen Sprung, als ihn der Corneller Präsident eines Tages bat, in den Ferien diese Bücher zu ordnen und zu katalogisieren – und das auch noch gegen Bezahlung.
    Regelrecht fieberte er nun dem Ende des Semesters entgegen.
    Und White stellte bald fest, dass das Urteilsvermögen dieses Studenten über den Wert eines Buches dem seinen weit überlegen war.
    Den ganzen Sommer über war George Lincoln damit
    beschäftigt, die Bücher in Syracuse zu katalogisieren, zuzuordnen und sie dann nach Cornell in die Bibliothek zu verschicken, wo er sie wiederum eigenhändig in die Regale stellte und ihren Standort sorgfältig in eine Kladde eintrug.
    Nach und nach hatte sich die Bibliothek in Cornell gefüllt.
    Die von White zusammengetragene Sammlung, in der allein schon die dämonologische Literatur und die Bücher über die Hexenverfolgungen viel Platz beanspruchten, war so umfangreich, dass zusätzliche Räumlichkeiten unumgänglich wurden, weshalb Burr eine großzügige Erweiterung der Bibliothek angeregt hatte.

    Nun aber stand er in Leipzig. Das Wetter war schon seit Tagen nasskalt und schmuddelig und die spärlichen Schneeflöckchen schienen schon beschmutzt zu sein, noch ehe sie die Erde erreichten. Was war das hier für ein Winter im Vergleich zu der glitzernden Herrlichkeit in Cornell, wo jeder Schritt in der trockenen Kälte von einem Knirschen begleitet wurde? Wo die im Sommer stürzenden Wasser der Taughannock Falls zu matt schimmernden Kaskaden erstarrt waren und der Cayuga Lake breit und behäbig im Winterschlaf lag. Wo die kalte Luft beinahe in den Lungen schmerzte und der Atem wie eine Dampfwolke entwich, während es hier gerade einmal zu einem flüchtigen trüben Hauch reichte!
    Burr wollte es nicht eingestehen, aber er hatte Heimweh. Die Bedingungen an der hiesigen Universität waren eher verdrießlich, die Menschen kleinkariert und spießig. Da war nichts zu spüren von einem Geist wie in Cornell, alles war irgendwie muffig, die Vorlesungen wurden in zackigem Ton gehalten und die meisten Professoren hätten ebenso gut einem Bataillon oder einer Kompanie vorstehen können. Aber er selbst hatte sich letztlich für Leipzig entschieden, als Andrew Dickson White gemeint hatte, es könne nicht schaden, wenn er, obwohl inzwischen selbst Lehrer, sein Wissen und

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