Die Liebe des Kartographen: Roman
Erinnerungen verlor, wurde ihm urplötzlich und mit der Gewalt eines Donnerschlags eine Erkenntnis bewusst: Er hatte sein Leben nur für die Kartographie gelebt. Ja, es stimmte, für ihn hatte es nichts anderes gegeben als seine Arbeit. Und darüber war er immer froh gewesen. Sie war sein Leben, für sie schlug sein Herz, sie war es, die seinem Leben Sinn gab. Doch jetzt wurde ihm noch eine andere Bedeutung dieser Tatsache klar: Indem er sich voll und ganz der Wissenschaft hingegeben hatte, war für die anderen Seiten des Lebens keine Zeit geblieben â oder besser gesagt: Er hatte sich keine Zeit dafür genommen. Doch mit jedem Tag, den er länger in diesem Erdloch verbrachte, war seine Neugier stärker geworden. Jetzt, da er nicht konnte, wie er wollte, sehnte er sich danach, seine Tage mit einem vollen, bunten Leben zu füllen. Vor seinem Sturz vom Pferd war er mit seinem gleichförmigen Alltag zufrieden gewesen â tagsüber seine Messungen durchzuführen, um diese abends in der Abgeschiedenheit einer Kammer auf Papier zu übertragen. Hatte jede Ablenkung, jede Ãnderung seines Zeitplans, jede Einwirkung von auÃen eher als lästig empfunden. Nun hatte er auf einmal das Gefühl, etwas Wichtiges verpasst zu haben.
Er schaute zu Xelia hinüber, die während seiner Schilderungen ein wenig nach unten gerutscht war und nun mit geschlossenen Augen und angewinkelten Knien dalag. Doch er wusste, dass sie nicht schlief, sondern hellwach war. Während er von sich und seinem Leben erzählte, konnte sie für eine Weile ihr eigenes Unglück vergessen. Wie schade nur, dass er nichts Aufregenderes zu erzählen hatte! Ein paar Abenteuer vielleicht, wie andere Reisende sie sich in den Wirtshäusern erzählten! Aber es wollte ihm nichts einfallen auÃer der Geschichte von den Anstettenern und deren vergiftetem Wasser. Er kam sich ein wenig komisch vor, als er den Gestank noch schlimmer und die Fäkalienberge noch gröÃer machte, als sie tatsächlich schon gewesen waren.
»Tja, so war das in Anstetten«, beendete er schlieÃlich seine Erzählung. Philip war völlig erschöpft. Er konnte sich nicht daran erinnern, jemals so viel an einem Stück geredet zu haben.
Xelia richtete sich wieder auf und reichte ihm neuen Tee. Sie wirkte nun wieder friedlich, nicht mehr so streitbar wie zuvor. Ob ihr seine Erzählungen gefallen hatten, konnte er ihr jedoch beim besten Willen nicht ansehen, und er scheute sich, sie danach zu fragen.
»Und was ist aus deinem alten Lehrer geworden? Diesem Hyronimus?«
Philip verschluckte sich fast an dem kalten Rest Kräutertee. Konnte das wahr sein? Da erzählte er stundenlang über sein Leben â von Kindesbeinen an bis zum heutigen Tag â, und die einzige Frage, die Xelia dazu einfiel, musste ihn an seine unrühmliche und feige Entscheidung vor den Toren Blaubeurens erinnern! Misstrauen überflog ihn wie eine schwarze Krähe: War sie womöglich doch eine Hexe, die Gedanken lesen konnte? Oder war es Zufall, dass sie gerade danach fragte?
»So ganz genau weià ich das nicht«, gab er kurz angebunden zurück. »Aber das ist eine andere Geschichte«,fügte er in einem versöhnlicheren Ton hinzu. »Der Hyronimus würde dir jedenfalls gefallen, da bin ich mir sicher.« Es war auf einmal das Natürlichste von der Welt, nach ihrer Hand zu greifen. »Ich erzählâ dir schon noch von ihm, das versprechâ ich dir. Doch jetzt lassâ uns schlafen.«
Sie nannte ihn danach nur noch den Schrittezähler.
~ 26 ~
D er Knoten, der Philip zur Untätigkeit gefesselt hatte, war geplatzt. Die nächsten Tage vergingen längst nicht mehr so eintönig wie die Wochen zuvor. Vielleicht lag es auch daran, dass ihnen nun mehr Platz zur Verfügung stand. Bald war es für ihn das Selbstverständlichste von der Welt, Xelia um etwas Wasser zu bitten und damit seine Farben anzurühren: erdiges Ocker, leuchtendes Kobaltblau, ein Rot, das für sein Empfinden etwas zu hell war und das er mit einem Hauch Braun abzutönen versuchte, und ein Grün, wiederum etwas dunkel â aber dagegen konnte er nichts tun. Dann rückte er an den Höhleneingang, um mehr Tageslicht abzubekommen. Seine Notizen ringsum ausgebreitet, einen frischen Bogen Pergament ausgerollt auf dem SchoÃ, tauchte er seine Feder in den Topf mit schwarzer Tinte, die neben den
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