Die Lieferung - Roman
erklären. Sie könnte ihm zum Beispiel sagen, dass das Netzwerk sie kontaktiert hatte und dass sie auf den Jungen aufpasste, bis er zu seinen Eltern nach England geschickt werden
konnte. Dass sie das mit Karin nur erfunden hatte, damit er nicht wütend würde.
Morten störte es nicht, dass sie mit abgelehnten Asylanwärtern arbeitete. Grundsätzlich unterstützte er ihre Arbeit, das hatte er immer getan. Er war ein erbitterter Gegner der gegenwärtigen Flüchtlingspolitik der Regierung, und er konnte sich maßlos über jede neue groteske Geschichte von Ausweisungen und zerrissenen Familienbanden in den Nachrichten aufregen. Sein Problem mit dem Netzwerk und ihrem Engagement für ihre Arbeit war rein persönlicher Natur. Morten war der Meinung, dass es ihr nicht guttat und sie vor sich selbst und ihren eigenen Kindern floh. Vor dem, was ihr Familienleben hätte sein sollen. Hatte er gute Laune, nannte er sie seinen kleinen Adrenalin-Junkie. War er schlecht drauf, sagte er nicht viel, aber seine Abneigung gegen das Netzwerk wuchs mit der Anzahl der Abende und Nächte, die sie anderswo als in ihrer Wohnung in Østerbro verbrachte.
In diesem Augenblick gab es keinen Platz auf der Welt, an dem sie lieber wäre, dachte Nina. Sie sah sich mit dem Jungen auf dem Arm die Treppe hochschleichen, Kaffee aufsetzen und den Jungen vor dem Fernseher parken, während sie selbst in das winzig kleine Badezimmer schlüpfte und den mit Tintenfischen bedruckten Duschvorhang zuzog. Sie würde unter dem heißen Wasserstrahl stehen und sich mit ihrem ganz persönlichen, unparfümierten Shampoo die Haare waschen. Und dann würde sie in die Küche gehen und den Frühstückstisch decken, mit Müsli, Rosinen, Zucker und Milch. Die Kinder mussten schließlich in die Schule, und der Junge könnte mit ihnen essen. Vielleicht erlaubte Anton ja, dass der Junge in seinem Bett schlief, ehe sie sich auf den Weg nach Vesterbro machten, um das Mädchen aus der Helgolandsgade zu treffen.
Mit einem Mal war sie fest entschlossen. Sie würde nach Hause fahren. Die Erleichterung, die sie bei diesem Gedanken
empfand, war fast physisch spürbar, als würde ihr jemand eine Last von den Schultern nehmen. Sie lächelte den Jungen noch einmal über den Rückspiegel an, als sie Richtung Åboboulevard auf die Reventlowsgade einbog. So frühmorgens sah alles ganz anders aus. Morten würde ihr helfen, natürlich würde er das. Wie hatte sie jemals daran zweifeln können?
Morten kochte für den Kriminalkommissar und sich selbst einen Kaffee. Der uniformierte Beamte wollte lieber eine Cola. Seine Bewegungen waren mechanisch, eine Reihe eingeübter Routinen, die automatisch abliefen: Wasser in den Wasserkocher gießen, anschalten, die letzten Kaffeesatzreste aus der Filterkanne spülen, den Deckel von der Kaffeedose schrauben und so weiter.
Du hast keinen blassen Schimmer, ob sie lebt oder tot ist, flüsterte eine zynische Stimme in seinem Kopf, stehst aber hier und kochst Kaffee.
»Milch oder Zucker?«
»Etwas Milch, bitte.«
Er öffnete die Kühlschranktür und starrte geistesabwesend auf Aufschnitt, eingelegte Gurken und ein Glas Rote Bete. Halb fünf am Morgen. Er roch den Nachtschweiß an seinem eigenen Körper und fühlte sich kraftlos und ungepflegt.
»Sie sagte, Karin wäre krank oder fühle sich nicht wohl, ich kann mich nicht mehr an ihre genauen Worte erinnern. Jedenfalls meinte sie, dass sie ihr helfen müsse.«
»Wann war das?«
»Kurz nach fünf gestern Nachmittag. Sie hätte Anton abholen sollen. Also, das ist unser Jüngster. Sie war dran, ihn aus dem Hort abzuholen. Aber das hatte sie vergessen.«
»Kommt das öfter vor?«
Er schüttelte den Kopf. Was weniger eine Verneinung war als Unsicherheit.
»Früher schon. Jetzt eigentlich nicht mehr. Sie … ich hatte das Gefühl, dass etwas passiert ist, sie hörte sich angespannt und besorgt an, vielleicht wegen Karin. Sie sind alte Freundinnen aus der Studienzeit, aber es ist schon ziemlich lange her, glaube ich. Dass sie sich getroffen haben, meine ich.«
Er stellte die Kanne auf den Tisch. Tassen. Milch in dem kleinen Stelton-Sahnegießer, den sie von seinen Eltern geschenkt bekommen hatten.
Vielleicht ist sie tot. Genauso tot wie Karin.
»Und Sie haben sie nicht gesehen?«, fragte er.
»Nein. Ein Nachbar hat einen Schrei gehört und die Leiche gefunden.«
»Einen Schrei? Von Karin?«
»Davon ist nicht auszugehen. Zu dem Zeitpunkt war sie aller Wahrscheinlichkeit nach bereits tot.
Weitere Kostenlose Bücher