Die Mädchen (German Edition)
spürte einen leichten Druck von
hinten am Schulterblatt und drehte sich bemüht unauffällig um. Daniel machte
große Augen und deutete mit dem Kopf zu Merle hinüber. Er war scheinbar genauso
perplex wie er. Rouven hatte ihm vor dem Unterricht eine Kurzfassung vom Besuch
der Polizei bei ihnen zu Hause gegeben und Daniel konnte sicher seine
Verärgerung nachempfinden, die er in diesem Moment verspürte. Er zuckte nur mit
den Schultern. Mehr traute er sich nicht. Tenfelde war zwar sterbenslangweilig,
aber er merkte immer sofort, wenn jemand abgelenkt war, und dann konnte er
richtig fies werden. Das war ja gerade das Schlimme an diesen Stunden. Man
konnte sich nicht einmal anderweitig beschäftigen, sondern war gezwungen,
zumindest den Eindruck zu erwecken, dass man seinen Worten lauschte.
Nachdem es geklingelt und Tenfelde
das Klassenzimmer verlassen hatte, drehte Rouven sich zu Daniel um. „Ich muss
aufs Klo.“
Sein Kumpel verstand den Wink. „Ich
auch.“
Sie verließen hintereinander den
Raum und gingen den Gang hinunter zu den Toiletten für die Jungs. Sie betraten
den Raum, schlossen die Tür hinter sich und kontrollierten, ob sie allein waren.
„Das gibt’s doch wohl nicht,
Digger“, entfuhr es Daniel. „Da kommt sie rein spaziert, als ob gar nichts
wäre.“
„Was meinst du, wo sie war?“
„Keine Ahnung. Auf jeden Fall hat
sie niemand verschwinden lassen, oder?“
Rouven nickte grimmig. Es stand
außer Frage, dass sie selbst für ihr Verschwinden verantwortlich war. „Ich
hoffe, dass sie richtigen Ärger kriegt deswegen.“
„Von wem? Höchstens von ihren
Eltern und ich glaub nicht, dass ihr das was ausmacht.“
Da war was dran. Klar war die
Polizei bestimmt stinksauer, aber was würde Merle das kratzen? Sie war
minderjährig, also waren ihre Eltern für sie verantwortlich. Und wenn die so
doof waren, gleich die Polizei einzuschalten, waren sie selbst schuld.
„Und? Willst du sie ansprechen?“
„Dass die Polizei bei uns war? Da
kannst du Gift drauf nehmen.“
Sie verließen den Toilettenraum und
gingen den Gang entlang zurück zum Klassenraum. Als sie die Mädchentoiletten
passierten, ging die Tür auf und Merle kam heraus. Rouven blieb stehen. Er
wusste, dass er sich lieber erst Zeit nehmen sollte, um darüber nachzudenken,
was er zu ihr sagen sollte, aber er konnte nicht anders. Er hielt sie am Arm
fest.
„Wo warst du?“ stieß er hervor.
Daniel warf nur einen Blick auf sie
beide und suchte das Weite.
„Lass mich sofort los oder ich
schrei die ganze Schule zusammen.“
Er zweifelte nicht an ihren Worten
und nahm die Hand weg. „Weißt du eigentlich, dass die Polizei nach dir gesucht
hat?“
Sie hatte einen spöttischen
Ausdruck im Gesicht. „Und was interessiert dich das?“
Er hätte ihr zu gerne eine Ohrfeige
verpasst, aber er hielt sich zurück. Er wusste genau, dass er ihr damit noch
einen Gefallen tun würde.
„Die waren bei uns gestern Abend.“
Das schien sie zu überraschen, aber
sie fing sich schnell. „Als ob du etwas über mich sagen könntest.“
Er kniff die Augen zusammen. „Das
könnte ich allerdings. Ich weiß, was du jeden Nachmittag machst.“
Sie machte sich gerade. „Ich weiß
nicht, was du meinst.“
Sie sah einfach nur toll aus und er
ärgerte sich, dass ihm das überhaupt auffiel. Wenn er nicht solch ein Interesse
an ihr gehabt hätte, wäre es niemals so zwischen ihnen eskaliert.
„Sag mir, was du willst de.“
Sie starrte ihn an und ihre großen
Augen bohrten sich regelrecht in sein Gesicht. Sie machte einen Schritt auf ihn
zu und packte ihn am Shirt. Das ging so schnell, dass er gar nicht reagieren
konnte.
„Pass mal auf, du kleiner
Hosenscheißer“, zischte sie. „Wenn du nicht die Schnauze hältst, mach ich dich
fertig. Denk nur an das letzte Mal.“
Damit ließ sie ihn los und ging
hoch erhobenen Hauptes den Gang hinunter zu ihrem Klassenraum. Er lehnte noch
einen Augenblick an der Wand und atmete tief durch. So, jetzt waren die Fronten
geklärt. Er zweifelte keinen Moment an ihren Worten, zu gut konnte er sich an
das von ihr angesprochene letzte Mal erinnern und auf eine Wiederholung konnte
er gut verzichten.
Die Feindschaft zwischen
ihnen hatte ihren Ursprung auf dem Klassenfest, etwa einen Monat nach Beginn
des aktuellen Schuljahres, ein Fest, das beide achten und siebten Klassen gemeinsam
ausgerichtet hatten. Zwar herrschte absolutes Alkoholverbot, aber wie das immer
so ist, wurde dann doch das eine oder andere Getränk
Weitere Kostenlose Bücher