Die Mädchen (German Edition)
übernächste
Woche würde sicher wieder gut ausfallen. Langsam begannen sie daher, ihre
strengen Regeln zu lockern, auch wenn sie ihn nach wie vor nur ungern unbeaufsichtigt
ließen. So durfte er wieder ins Internet, wenn auch kontrollierter als vorher,
was hieß, dass er nur den Computer im Arbeitszimmer seines Vaters benutzen
durfte und die Tür dabei offen bleiben musste. Nachts wurden die Sicherungen
entfernt, damit er nicht heimlich wieder stundenlang vor dem Bildschirm sitzen
konnte.
„Rouven?“ rief sie, als sie oben
angekommen war.
„Was?“ kam es aus dem Arbeitszimmer
zurück. Sie hätte es sich ja denken können, wo sollte er auch sonst sein? Sie
stand im Türrahmen und sah, wie ihr Sohn den Computer auf Bildschirmschoner
schaltete. Er drehte sich auf dem Stuhl zu ihr herum. Sie unterdrückte den
Impuls, die Maus zu berühren, um zu sehen, womit er gerade beschäftigt war.
Schließlich waren sie gerade dabei, gegenseitiges Vertrauen aufzubauen, das wollte
sie nicht gleich wieder zunichte machen. Und was schadete es, wenn er ab und an
mal mit jemandem chattete?
„Ich wollte nur mal sehen, ob alles
in Ordnung ist.“
Er pustete sich die Haare aus der
Stirn. „Was sollte schon sein?“
Marina betrachtete ihn und ihr
wurde wehmütig ums Herz, wie es wohl jeder Mutter ging, wenn sie feststellte,
dass ihr Sohn erwachsen wurde und sie nicht mehr so brauchte wie früher. Mit Patrick
hatte sie das bereits hinter sich, aber das hatte sie nicht so getroffen, weil
ihr älterer Sohn sie nie so gebraucht hatte wie Rouven. Er hatte schon früh
sein eigenes Ding gemacht, hatte sie selten um Rat gefragt. Vielleicht lag es
daran, dass er sich schon mit sechs beim Fußball hatte beweisen müssen.
Vielleicht war er aber auch einfach anders veranlagt. Sie konnte sich noch
daran erinnern, wie problemlos Patrick in den Kindergarten ging, während Rouven
kaum von ihrer Seite weichen wollte und jedes Mal in Tränen ausbrach, wenn sie
ihn dort ablieferte. Wie auch immer, jedenfalls war Patrick viel härter als
sein Bruder, und somit tat es ihr weit mehr weh, zu sehen, wie Rouven sich von
ihr entfernte. Wie er jetzt so da saß, war die Ähnlichkeit zu seinem Vater
frappierend. Die ovale Gesichtsform, die etwas weit auseinander liegenden
braunen Augen mit langen dunklen Wimpern, die jede Frau neidisch werden ließen
und die schmale gerade Nase. Er hatte dasselbe dunkle Haar, wenn auch anders
geschnitten, soweit man bei Rouven von einem Schnitt sprechen konnte, halt die
typische GZSZ-Frisur, mit der die Jungen heutzutage herumliefen, Fransen, die
in alle Himmelsrichtungen vom Kopf abstanden und jeden Morgen kunstvoll mit Gel
in Form gebracht werden mussten. Sie konnte sich nicht daran erinnern, dass sie
als Mädchen morgens soviel Zeit vor dem Spiegel verbracht hatte, wie es ihre
Söhne taten, aber so waren die Zeiten eben.
„Hausaufgaben fertig?“
Er verzog das Gesicht. „Willst du
sie sehen?“
„Ist schon in Ordnung. Ich mach mir
gleich was zu essen. Möchtest du auch was?“
„Okay. Dann komm ich gleich
runter.“
Sie nickte. „Ich ruf hoch, wenn es
fertig ist.“
Sie wandte sich zum Gehen, als er
sie zurückhielt.
„Mama?“
Sie drehte sich zu ihm um. „Ja?“
„Weißt du, ob Patrick gestern hier
war?“
„Was meinst du? Am Computer?“
Er nickte.
„Keine Ahnung. Warum fragst du?“
Er zuckte mit den Achseln. „Ach,
nur so.“
„Hat er eine von deinen Dateien
gelöscht?“
Er winkte ab. „Nein. Ist auch egal.
Lass man.“
Marina musterte ihn nachdenklich,
aber er wich ihrem Blick aus. Sie seufzte innerlich, denn diesen
Gesichtsausdruck kannte sie zur Genüge. Sie war sicher, dass es nicht egal war,
sondern dass ihn irgendetwas gestört hatte, aber in ihn zu dringen würde gar
nichts bringen. Wenn Rouven auf stur schaltete, konnten ihn nichts und niemand
dazu bewegen, sich mitzuteilen. Mit einem komischen Gefühl verließ sie das
Arbeitszimmer und ging nach unten, um für sich und ihren Sohn ein paar Nudeln
zu kochen.
Rouven atmete auf, nachdem seine
Mutter das Zimmer verlassen hatte. Das war ja noch mal gut gegangen. Er hatte
einen ganz schönen Schreck bekommen, als er sie plötzlich die Treppe hoch hatte
kommen hören. Er hatte gerade noch geistesgegenwärtig den Browser schließen
können, bevor sie das Zimmer betrat. Er war sicher, dass sie nichts gesehen hatte,
aber ihr Blick, mit dem sie ihn die ganze Zeit gemustert hatte, sprach Bände.
Es hatte ihr nicht gefallen, ihn vor dem
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