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Die Mädchenwiese

Die Mädchenwiese

Titel: Die Mädchenwiese Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Martin Krist
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Schlaf war nicht zu denken. Schließlich setzte sie sich auf. Mit den Händen, die ihr auf den Rücken gefesselt waren, war auch diese Position nicht gerade bequem. Obendrein musste sie dringend auf die Toilette.
    Sie hatte keine Ahnung, wann sie das letzte Mal auf dem Klo gewesen war. Sie wusste nicht einmal, welcher Tag war.
    »Scheiße, scheiße, verdammt!«, rief sie und rüttelte an den Fesseln. Zu ihrer Überraschung gaben die Knoten nach.
    Statt Erleichterung überkam sie Entsetzen. Als sie das erste Mal an den Stricken gezerrt hatte, hatten die Seile sich enger um ihre Handgelenke geschlungen. Wenn sie sich nun bei der gleichen Bewegung lösten, konnte dies nur eines bedeuten: Jemand hatte sie entknotet.
    Jemand ist bei mir gewesen! , durchzuckte sie die Erkenntnis. Und ich habe es nicht bemerkt! War ich ohnmächtig? Habe ich geschlafen? Sie wagte nicht, sich zu bewegen. Vielleicht lauert er noch im Halbdunkel. Oder er sitzt neben mir.
    Doch sie hörte keine fremden Atemgeräusche oder Schritte, nur das Pochen ihrer wunden Schläfe und ihr Herz, das raste. Sie bewegte ihre Finger. Nach einer Weile verschwand das taube Gefühl aus den Händen, und sie konnte die Stricke ertasten.
    Verdammt, hör nicht auf! , spornte sie sich an.
    Du kriegst das hin! , hatte Berthold gesagt. Du schaffst das! Du bist stark!
    Endlich lösten sich die Seile. Lisa lachte und weinte zugleich. Ja, verdammt, ich bin so stark! Vor lauter Erleichterung verlor sie fast die Kontrolle über ihre Blase.
    Sie konnte nicht aufhören, ihre Arme zu massieren. Als ihre Hände sich kräftig genug anfühlten, betastete sie den Sack auf ihrem Kopf. Er war mit einer Kordel um ihren Hals befestigt. Sie fand den Knoten auf Anhieb, doch es dauerte mehrere Minuten, bis sie ihn gelöst hatte.
    Sie schob den Stoffbeutel nach oben. Fast erwartete sie, dass ihr jemand ins Gesicht grinste, sie ansprang oder sie schlug. Womit sie nicht rechnete, war das Licht. Es war nur eine nackte Glühbirne, die an der Decke hing. Aber nach der langen Zeit, die Lisa im Halbdunkel verbracht hatte, bohrte sich das schwache Licht wie ein Scheinwerfer in ihre Pupillen.
    Lisa kniff die Augen zusammen. In der Kammer roch es muffig wie in einem Keller. Sie öffnete die Augen einen Spalt weit und sah, dass sie sich in einem winzigen Verschlag ohne Fenster und ohne Möbel befand − nur in der Ecke lag eine fleckige Matratze. Die Wände waren grob verputzt, eine Seite des winzigen Raums bestand vollständig aus Gitterstäben – wie die einer Gefängniszelle. Aus ihrem Mund drang ein Schluchzen.
    »Hey«, hörte sie eine Stimme flüstern, »besser, du hörst auf zu weinen.«
    Kapitel 17
    Als wäre mir der Leibhaftige erschienen, sprang ich auf. Ohne einen Blick zurück hastete ich heim.
    »Aber so warten Sie doch«, rief der Mann mir hinterher, »ich wollte Sie nicht …«
    Seine übrigen Worte wurden vom Klappern meiner Schuhe verschluckt. Es behagte mir nicht, dass mich dieser Fremde in einem solch beklagenswerten Zustand gesehen hatte. Außerdem hatte er gefragt: Warum immer so traurig? Als hätte er mich nicht zum ersten Mal zu später Stunde dort sitzen sehen.
    Einen Tag darauf erlitt meine Mutter einen neuerlichen Schwächeanfall. Dreimal mussten wir in der darauffolgenden Woche Dr. Föhringer für sie rufen. Weil sie sich ständig erbrach, verbrachten wir abwechselnd die Nächte an ihrem Bett. Frühmorgens stand ich übermüdet in der Backstube. Die Narben der Brandblasen, die ich mir aus Unachtsamkeit am heißen Backofen zuzog, lähmen noch heute manchmal, bei schlechtem Wetter, meine Finger. Es dauerte daher eine ganze Weile, bis ich wieder Zeit für einen Spaziergang fand.
    Nach zwei Wochen ging es meiner Mutter endlich besser. Ich dagegen fühlte mich am Ende meiner Kräfte. Mehr denn je verlangte es mich nach einem Moment der Stille und der Erholung, weshalb ich schließlich auch meine Scheu überwand. Inzwischen erschien es mir sogar wahrscheinlich, dass ich, verstört, wie ich an jenem Abend gewesen war, den Fremden nur falsch verstanden hatte. Welcher Mann, der halbwegs bei Trost war, würde schon von einer zermürbten Frau wie mir Notiz nehmen?
    Dennoch war ich wenig überrascht, als ich am Brunnen hinter mir ein Rascheln vernahm. Ich weiß nicht, woher ich meine Gewissheit nahm, aber auf Anhieb wusste ich, dass es wieder der Fremde war. Diesmal blieb ich sitzen.
    »Es tut mir leid«, hörte ich ihn mit leiser, durchaus angenehmer Stimme sagen, »ich wollte Sie

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