Die Mars-Stadt
straffte sich, fasste einen
Entschluss. »Reid kann nicht wissen, dass Jay-Dub dies
niemals erwähnt hat oder dass wir gegenwärtig keine
Verbindung zu ihm haben. Deshalb behält er es vielleicht in
der Rückhand, um Einspruch erheben zu können, falls
gegen ihn entschieden wird. Zum Teufel damit. Ich werd’s
halt im Hinterkopf behalten. Machen wir weiter.«
Dee vernimmt einen fernen Ruf. Die Gestalten in der Nähe
des Turms schreien und winken und entfernen sich. Der Turm hat
sich verändert, die stacheldrahtbewehrten Streben bilden ein
Muster, das trotz seiner Hässlichkeit irgendwie
zwangsläufig und richtig wirkt.
Sie erhebt sich seufzend. Jetzt muss sie den ganzen Hang
hinuntersteigen und -rutschen und über die unbefestigte
Straße zurückgehen. Sie begreift nicht, weshalb sie
nicht einfach fliegen kann, denn schließlich ist das
alles ja bloß virtuell. Wilde hat von so genannten
›Konsistenzregeln‹ gesprochen, doch das hat sie
nicht sonderlich beeindruckt. Sie selbst braucht keine
Pseudokonsistenz, um nicht verrückt zu werden.
Doch all das Schimpfen und Fluchen nützt nichts, denn
übergangslos befindet sie sich wieder in ihrem müden
und schmerzenden Körper. Sie hat solche Kopfschmerzen, dass
sie lieber unter der großen, heißen Erdsonne den Hang
hinuntergeklettert wäre. Über ihr schwanken an Haken
aufgehängte Werkzeuge und Taschenlampen, und das tiefe
elektrische Summen der Turbinen beweist, dass sie unterwegs
sind.
Sie setzt sich vorsichtig auf und schwenkt die Füße
auf den Boden. Ax steht an der sich schließenden
Heckklappe. An allen vier Wänden des Laderaums gehen
Monitore an, während sich die Heckklappe mit seufzender
Hydraulik und dem saugenden Geräusch der Dichtungen
schließt. Sie fahren geradewegs zum Kanal, den sie mit
einer sanften Nickbewegung durchqueren. Dee weiß, dass die
Raupenketten des Fahrzeugs an ausfahrbaren Beinen montiert sind,
sodass ein Abfall von mehreren Metern kein größeres
Hindernis darstellt als ein Schlagloch.
»Was ist los?«, fragt Dee.
Ax zuckt die Schultern, doch Dees Frage wird beantwortet, als
der Vorausmonitor plötzlich den Blick über Wildes und
Megs Schultern hinweg wiedergibt. Meg dreht sich lächelnd
um, Wilde sieht nach vorn, erwidert aber ihren Blick im
Heckspiegel. (Abermals die Konsistenzregeln. Verrückt,
findet Dee.)
»Hü«, ruft er. »Der abrupte
Übergang tut mir Leid. Du kannst mit Meg zusammen wieder
zurückkehren, aber im Moment muss ich in der Realität
bleiben.« Er lacht. »Jedenfalls insofern, als ich aus
dem Fenster schauen und den Truck steuern muss.«
In der Realität ruht Jay-Dub schon die ganze Zeit in
einem Hohlraum im Vorderbereich des Fahrzeugs. Der Truck kann
sich sehr gut von alleine steuern. Dee hegt den leisen Verdacht,
dass das Verhalten des Robots teilweise psychologische
Gründe hat, die weniger tief greifen als die implantierten
Konsistenzregeln. Sie lässt die Erklärung im Raum
stehen.
»Wo fahren wir hin?«, fragt sie.
»Wir müssen nach Ship City
zurückkehren«, antwortet der Mann.
»Gibt es Probleme bei der Verhandlung?«, rät
Dee. Sie folgt der Unterhaltung nur am Rande; sie erkundet ihr
Bewusstsein, zählt ihre Ichs ab wie heimkehrende Kinder und
stellt zu ihrer Erleichterung fest, dass alle da sind. Der
Geheimnisbereich ist kleiner, der Speicher größer als
damals, als sie sie von Jay-Dub heruntergeladen hat – aber
das geht in Ordnung, sie hat noch genug freien Platz in ihrem
Kopf.
»Ach, nein!«, antwortet Wilde, dessen Blick
zwischen dem Spiegel und der Wüste hin und her wandert.
»Wir müssen ein Gift aufnehmen, und
dann…«
Er verstummt, entweder wegen der Felsen, die sie
überqueren müssen (sie hält sich an der Liegebank
fest)… oder weil er nicht weiß, was er sagen
soll.
»Was dann?«
Wildes Augen lächeln, als er sie wieder anschaut.
»Wir werden das Höllentor hacken.«
Sie wagt nicht, weiter nachzufragen. Es ist offensichtlich,
dass sie nicht mehr erfahren wird, und sie muss davon ausgehen,
dass es einen triftigen Grund dafür gibt. Wilde nickt ihr
aufmunternd zu, dann wendet er seine Aufmerksamkeit wieder der
flachen Wüste und Meg zu. Ax hat sich in der Nähe eines
Antennenanschlusses auf eine alte Plastikplane gelegt und
empfängt über Fernsehen Visionen.
Dee lässt den Wissenschaftler arbeiten und begibt sich
ins System. Minuten verstreichen. Dann, wie von großer,
kalter Höhe aus betrachtet,
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