Die Medizinfrau
dem Gewicht von zwei Reitern.
Murdoch humpelte an der Führleine hinter ihnen her und schaffte es ganz gut auf drei Beinen. Aber sie kamen nicht weit. Der Weg wand sich um eine Bergflanke, führte über einen Sattel, um danach steil zum Thunder Creek abzufallen. Sie erreichten eine Bergmatte, von der sie den Pfad gut überblicken konnten. Gabe zügelte die Stute und knurrte übellaunig.
»Das war’s dann wohl.«
»Was?« fragte Olivia.
»Schauen Sie nach vorn. Was sehen Sie?«
Olivia fand, diese Gebirgstäler sahen alle gleich aus. »Bäume, Felsen, Geröll, Bergwände. Was soll ich denn sehen?«
»Der Weg ist abgeschnitten. Sehen Sie den kleinen See dort unten?«
Der Weg führte direkt in den See.
»Eine Lawine ist in den Thunder Creek abgegangen. Es hat zu viel und zu schnell geschneit. Sie hat Bäume und Felsbrocken ins Tal gerissen, den Bach blockiert und zu einem Tümpel gestaut.«
»Heißt das, wir kommen nicht durch?«
»Genau das heißt es, Doc.«
Olivias Herz sank. »Aber der Schnee schmilzt. Das haben Sie selber gesagt.«
»Es dauert ziemlich lange, bis diese Massen geschmolzen sind – vielleicht bis zum Frühling. Aber das Wasser wird sich hindurchfressen, und dann können wir durch das Bachbett waten. Das wird zwar mühsam, ist aber nicht unmöglich.«
»Aber das kann ja Wochen dauern, bis der Bach sich durch Geröll und Schnee gebahnt hat!«
»Richtig.«
»Es muß einen anderen Weg nach Elkhorn geben.«
»Keinen, der für Sie geeignet wäre. Sie haben schon Mühe genug, sich auf einem bequemen Weg im Sattel zu halten.«
»Ist da drüben nicht ein Pfad?« Sie deutete auf eine schmale Linie, die sich oberhalb der Baumgrenze die Bergflanke entlang schlängelte. »Da sieht aus wie ein Weg.«
Danaher lachte in sich hinein. »Das ist ein Wildwechsel. Er wird von Bergziegen, Rehen und Hirschen benutzt, Pferde sind keine guten Kletterer. Es tut mir aufrichtig leid, Doc. Aber Sie werden noch ein paar Wochen meine Gastfreundschaft in Anspruch nehmen müssen.«
»Noch ein paar Wochen …« Olivia war entsetzt. Sie konnte nicht noch wochenlang in dieser gottverlassenen Wildnis verbringen. In zwei Monaten kam Amy nieder. Sie mußte nach Elkhorn!
»Könnte man den Wildwechsel nicht benutzen, wenn man ein Pferd am Zügel führt – im Notfall, meine ich?«
»Vielleicht – jemand, der beinahe so geschickt klettert wie eine Bergziege. Sie jedenfalls nicht.«
Olivia war gewöhnt zu hören, daß eine Aufgabe ihre Fähigkeiten überstieg, und sie war daran gewöhnt, das Gegenteil zu beweisen. Sie schaute sich den Wildwechsel genau an, wie er von diesem Standort am besten zu erreichen war. Sie blickte immer wieder zurück, als sie sich wieder an den Anstieg machten.
Spät am Abend erreichten sie die Hütte. Katy saß angezogen im Stuhl neben dem Feuer. Ellen schlief auf dem Speicher.
»Krummer Stab ist gegangen«, berichtete Katy. »Er sah euch den Weg heraufkommen. Er will nach Norden, um sich der Jagdgruppe von Lahmer Wolf anzuschließen. Er hatte es eilig, bevor das Wetter wieder umschlägt. Jetzt, wo Großmaulfrau«, sie bedachte Olivia mit einem gehässigen Grinsen und wiederholte den wenig schmeichelhaften Namen, »also, wenn Großmaulfrau hier bleibt, meint Krummer Stab, brauchst du seine und Eichhornfraus Hilfe nicht mehr.«
»Ich werde mit Sicherheit nicht bleiben!« entgegnete Olivia spitz.
»Das habe ich Krummer Stab auch gesagt. Sie sind eine aus der Stadt, die ganz schnell wieder verschwindet, jetzt da ich und Ellen wieder auf den Beinen sind.« Sie warf ihrem Vater einen beifallsheischenden Blick zu.
»Du hast ganz recht«, pflichtete Olivia ihr bissig bei.
»Also jedenfalls hat Krummer Stab sich verdrückt. Er will noch mal reinschauen, bevor der Winter wirklich loslegt.«
Gabe warf den Hut auf den Tisch und hakte die Kaffeekanne über dem Feuer ein. »Katy, du solltest längst im Bett sein. Wie ich sehe, schlaft ihr wieder auf dem Dachboden.«
»Wir sind nicht mehr krank und brauchen nicht mehr neben dem Feuer schlafen und uns von der sagen lassen, was wir tun dürfen, was wir essen, und wann wir pinkeln sollen.«
»Katy! Sei etwas höflicher zur Frau Doktor und rede nicht wie ein Eseltreiber.«
»Ich bin ja höflich, Pa. Ich sag nur, was wahr ist. Du brauchst sie nicht mehr hier behalten. Ellen und ich brauchen sie nicht. Ehrlich.«
»Euer Vater weiß genau, daß ihr keinen Arzt mehr braucht«, entgegnete Olivia mit Nachdruck, in der Hoffnung, diese Erkenntnis endlich
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