Die Mütter-Mafia
bedauerlicher Irrtum, wie sich später herausstellen sollte.
Beinahe hätte ich es versäumt, Julius rechtzeitig vom Kindergarten abzuholen. Gerade an seinem ersten Tag wollte ich ihn auf keinen Fall warten lassen. Also schwang ich mich um fünf vor zwölf im orangeroten Overall aufs Fahrrad und stellte einen neuen Streckenrekord auf An der letzten Abbiegung wäre mirmeine Eile dann beinahe zum Verhängnis geworden. Ein silbergrauer Mercedes nahm mir dort nicht nur die Vorfahrt, sondern streifte um Haaresbreite meinen Vorderreifen. Nur durch eine Vollbremsung konnte ich eine Kollision verhindern. Die Frau in dem Mercedes fuhr kopfschüttelnd weiter, während ich zu Tode erschrocken auf der Kreuzung stand und nach Luft japste. Was für eine Unverschämtheit: Hier galt ganz klar rechts vor links, und ich war von rechts gekommen! Wegen dieser Frau hätte mir weiß Gott was passieren können.
Meine Eltern sagten immer, dass ich viel zu viel Wirbel um Nichtigkeiten veranstaltete. Ständig würde ich mir Dinge ausmalen, die hätten passieren können. Aber so war ich nun mal: Dass mein Bruder mich im Alter von neun Jahren beinahe mit einem Pfeil getroffen hätte, hatte meine Eltern völlig kalt gelassen, aber ich konnte darüber heute noch stinksauer werden. Wenn der Pfeil mich getroffen hätte, dann hätte ich heute nur ein Auge, wenn ich überhaupt noch leben würde. Und mein Bruder hatte sich noch nicht mal dafür entschuldigen müssen, dass er beinahe mein ganzes Leben ruiniert hätte.
Jetzt fühlte ich mich ganz ähnlich wie damals. Wenn der Mercedes mich erwischt hätte, hätte Julius an seinem ersten Kindergartentag vergeblich auf seine Mama gewartet - diese Vorstellung brach mir beinahe das Herz. Und da besaß diese Schrulle, die beinahe einen vierjährigen Jungen zum Halbwaisen gemacht hatte, auch noch die Frechheit, den Kopf zu schütteln!
Beim Weiterfahren fühlten sich meine Beine ein bisschen wie Pudding an, so sehr hatte mich dieser Beinahe-Zusammenstoß erschreckt. Es waren nur noch wenige Meter bis zum Kindergarten, und siehe da: Der silbergraue Mercedes parkte direkt vor dem Eingang. Die alte Schrulle war gerade ausgestiegen.
Ich bremste direkt neben ihr. »Ja, haben Sie mich vorhin denn nicht gesehen?«, rief ich. »Ich hätte tot sein können!«
Die Frau musterte mich mit hochgezogenen Augenbrauen. Sie war Mitte, Ende fünfzig, wer wusste das schon so genau,möglicherweise war sie auch über sechzig und nur gut gelittet. Die Ohrläppchen schienen mir jedenfalls allzu straff am Halsansatz zu sitzen. Davon abgesehen war sie eine ausgesprochen gepflegte, vornehme Erscheinung. Sie trug ein altrosefarbenes Wollkostüm mit passenden Schuhen, Perlenohrringe und diese eigenartige Kombination aus »Chanek-Handtasche und »Hermen-Tuch, die man in bestimmten Kreisen des Öfteren antrifft. Die hellen Haare waren ziemlich kurz geschnitten und offenbar gerade von einem Friseur in Form gebracht worden.
Mein orangeroter Overall schien sie zu befremden, denn sie zwinkerte mit ihren Augen, als ob das viele Orange sie blenden würde.
»Was wollen Sie von mir?«, fragte sie, in einem Tonfall, den man Hausierern gegenüber anschlägt, bevor man ihnen die Tür vor der Nase zumacht: »Wir kaufen nichts!«
Ja, was wollte ich eigentlich? Ich war immer noch zu aufgebracht, um klar denken zu können. »Dass Sie einsehen, dass Sie mir vorhin die Vorfahrt genommen und damit mein Leben gefährdet haben. Und dass Sie es allein meiner Reaktionsschnelligkeit zu verdanken haben, dass nichts Schlimmes passiert ist«, sagte ich.
»Ach so, Sie sind die Radfahrerin, die vorhin aus der Seitenstraße geschossen ist«, sagte die Frau. »Jetzt erinnere ich mich.«
»Das ist ja auch erst zwei Minuten her!« Prima Kurzzeitgedächtnis.
»Da haben Sie aber ganz schön Glück gehabt, dass ich immer so vorsichtig fahre«, sagte die Frau. »Wenn ich einen Tick schneller gewesen wäre, wären Sie auf meiner Motorhaube gelandet.«
»Ja, weil Sie mir die Vorfahrt genommen haben. Rechts vor links!«
Die Frau drehte ihre Augen gen Himmel. »Ist das denn nötig, dass Sie hier auf offener Straße so eine Szene machen?«
Meine Eltern hätten der Frau Recht gegeben. Ich sah sie förmlich vor mir, wie sie heftig nickten. Immer, immer hielten sie zu den anderen! Das war ja so was von ungerecht.
»Rechts vor links ist eine einfache Verkehrsregel, und sie gilt auch, wenn man einen Mercedes fährt«, sagte ich.
Die Frau kniff pikiert die Lippen
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