Die Mutter
führte, hatte er hin und wieder einen vereinzelten Baum durch eine freie Stelle in der dichten Vegetation am Straßenrand erspäht, aber der Anblick, der sich ihm bot, als er in die Zufahrt einbog - das erste Mal, dass der See zu sehen war - war ebenso grauenhaft wie eindrucksvoll.
Der Nebel war hier dichter als auf dem Freeway und bildete eine weiße Meeresdecke über dem See, sodass er aussah wie ein unendliches Gewässer. Auch wenn Blake wusste, dass dies nicht der Fall war, war die Szenerie dennoch ein wenig surreal -es schien ihm, als blicke er auf eine endlose Wolke. Aber es waren die Bäume - fünfzig, vielleicht auch hundert -, die Blakes Aufmerksamkeit auf sich zogen. Sie ragten aus dem nebligen Wasser wie tote Hände, die sich gegen den grauen Himmel recken, ohne ein einziges Blatt, ohne Leben oder Schönheit, so als seien sie an Ort und Stelle beim Ertrinken erfroren.
Meist standen sie in knorrigen, unförmigen Gruppen zusammen, ihre dürren Zweige wie Tausende verknöcherter Finger ineinander verwoben; ein paar standen auch ganz allein im weißen Nebel.
Blake stellte den Truck auf dem Parkplatz ab, machte den Motor und die Scheinwerfer aus und drehte sich zu Jane um. Sie blickte mit einer inneren Ruhe auf den See hinaus, die Blake noch nie bei ihr gesehen hatte - sie schien nicht nervös oder ängstlich zu sein, weil sie sich an jenem Ort befand, an dem man die Leiche ihrer Tochter entsorgt hatte.
»Ich habe hier noch nie so viel Nebel gesehen. Es ist ... wunderschön.«
Schönheit lag in der Tat im Auge des Betrachters, dachte Blake. Es war ein unglaublicher Anblick - das konnte er nicht bestreiten - aber er hätte ihn nicht unbedingt als schön bezeichnet. Dies war nicht gerade ein Wasserfell, der malerisch über die Berge in die Tiefe stürzte. Dies war ein Postkartenmotiv nach dem Geschmack von Edgar Allan Poe. Sie kletterten beide aus dem Truck. Der plötzliche Temperaturabfall versetzte Blakes Körper einen Schock; die eiskalte Luft biss sich bis auf seine Knochen durch, und die Luft, die er ausatmete, verwandelte sich in Nebel. Jane ging auf einen Bootssteg zu. Blake zog den Reißver-
schluss seiner Jacke zu, steckte die Hände in die Taschen und folgte ihr. Er fragte sich, weshalb ein Ort wie dieser überhaupt einen Bootssteg brauchte - es war nicht gerade ein bootsfreundlicher See.
Während er zum Steg ging, sah er sich um. Links neben dem Steg befand sich ein kleiner Picknickbereich mit Tischen und Grillstellen; weiter hinten sah er ein Gebäude - das einzige Wort, das er darauf durch den Nebel erkennen konnte, war »Yacht«. Hinter dem Picknickbereich erstreckte sich ein Wald.
Je weiter sie sich dem See näherten, desto dichter wurde das Weiß. Er fühlte sich ein wenig schwindelig. Ihm war beinahe, als schwebe er; er konnte das gegenüberliegende Ufer des Sees noch immer nicht ausmachen. Das Kreischen und Trällern der Vögel und das Quaken der Frösche wurden lauter - das Echo ihrer Schreie breitete sich über die ansonsten vollkommen stille Gegend aus.
»Das ist ein Yachtclub?«, fragte Blake, als er sich zu Jane gesellte, die auf der Mitte des Stegs stand.
»Das ist eine sehr beliebte Gegend zum Boot fahren und Angeln, besonders im Sommer.«
»Ja, das kann ich mir vorstellen«, sagte Blake mit einem Lächeln, aber da seine Lippen völlig taub waren, war er sich nicht sicher, wie breit es ausfiel. »Was machen die Boote hier - Autoscooter mit den Bäumen spielen?«
»Es ist ein großer See. Was wir hier sehen, ist ein Sumpf. Na ja, wenigstens war er das mal. Der Winton-Sumpf. Er wurde vor langer Zeit zu einem See erweitert, aber die Bäume sind geblieben.«
»Die sind unheimlich«, entgegnete Blake. »Wachsen an denen auch manchmal Blätter?«
Jane schüttelte den Kopf. »Das Wasser ist viel zu verseucht. Außerdem sind die Bäume alle abgestorben, als der Sumpf in den Siebzigern geflutet wurde, und sie sind nie nachgewachsen. Sie stehen einfach nur da, so als warteten sie darauf, dass ihnen jemand ihr Leben zurückgibt.«
Blake schaute nach vorne, wo der Steg ins Wasser tauchte. Er fragte sich, ob er wohl durch den Nebel direkt in die Dunkelheit
stürzen würde, wenn er ihm bis zum Ende folgte. Er wusste, dass unter dem Nebel nur Wasser lag, aber bei dem Gedanken erschauderte er trotzdem. Als Jane sagte: »Kommen Sie, ich zeige Ihnen, wo sie gefunden wurde«, war Blake froh, dass er den Steg verlassen konnte und wieder festen Boden unter die Füße bekam.
Sie durchquerten
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