Die Nacht Hat Viele Augen -1-
unkontrollierbar aus den Augen, und sie bedeckte ihr Gesicht mit den Händen.
Seth gab einen ungeduldigen Laut von sich. »Durch ein bisschen Geschluchze lass ich mich nicht hinhalten, Raine. Was zum Teufel ist los mit dir und Lazar? Raus damit!«
Die Worte verließen ihren Mund, als hätten sie sich selbstständig gemacht. »Er hat meinen Vater getötet.«
Seth zeigte keinerlei Reaktion, sagte nichts und wirkte auch nicht schockiert. Er betrachtete sie nur nachdenklich. Dann wischte er ihr mit den Fingerknöcheln die Tränen aus dem Gesicht.
»Würdest du mir das noch einmal sagen, Babe?«, fragte er sanft.
Sie presste die Hand auf die Lippen, während sie fieberhaft überlegte, was sie ihm erzählen konnte. Ein falsches Wort, und die ganze Sache würde aus ihr heraussprudeln, völlig unzensiert.
»Es ist Jahre her«, flüsterte sie. »Ich war elf. Mein Vater … hat für ihn gearbeitet. Die Einzelheiten kenne ich nicht. Ich war zu klein. Man hat es als Bootsunfall hingestellt. Wir sind trotzdem geflohen und nie zurückgekommen. Meine Mutter weigert sich bis heute, darüber zu sprechen.«
»Und wie kommst du darauf, dass Victor …«
»Dieser verdammte Albtraum!« Sie ließ die Hände sinken und zeigte ihm ihr tränenüberströmtes Gesicht und ihre beschämende Verzweiflung. »Seit mein Vater gestorben ist, träume ich ihn immer wieder. Er zeigt mir seinen Grabstein, und aus der Inschrift quillt Blut. Dann sehe ich auf, und da steht Victor und lacht mich aus.«
»Aber es gibt keinen Beweis? Niemand sonst hat ihn damals verdächtigt?«
»Nein«, flüsterte sie. »Wir sind nur geflohen. Meine Mutter und ich.«
Sanft wischte er ihr die Tränen fort. »Liebste«, sagte er behutsam. »Könnte es vielleicht nur an deiner Trauer liegen?«
Sie zuckte vor ihm zurück. »Meinst du nicht, dass ich mir diese Frage auch seit siebzehn Jahren immer wieder gestellt habe? Doch inzwischen ist mir das egal. Ich muss es durchziehen, oder ich werde in der Psychiatrie landen. So einfach ist das.«
Er sah sie düster an. »Was durchziehen? Was genau hast du vor?«
Sie hob die Hände. »Herausfinden, was mein Vater gewusst hat, weswegen er sterben musste. Nach Hinweisen suchen, nach Motiven. Ich habe niemals behauptet, dass ich Supergirl bin.«
»Ich dachte, deine Eltern leben in London.«
Sie warf ihm einen verblüfften Blick zu, und er zuckte ungeduldig die Achseln. »Ich habe mich in deine Personalakte gehackt«, erklärte er knapp.
»Oh«, murmelte sie. »Hugh Cameron ist mein Stiefvater. Nachdem mein Vater getötet worden war, sind wir fünf Jahre lang quer durch Europa gezogen. Dann hat sich meine Mutter schließlich so weit beruhigt, dass sie sich mit Hugh in London niederließ.«
»Wie heißt dein Vater?«
Dieses Detail war sie noch nicht bereit preiszugeben, nicht ihm oder irgendwem sonst. Irgendein Instinkt schien zu verhindern, dass sie die Worte aussprach. Sie versuchte das Zittern zu verbergen, das sie durchlief. »Sein Name war … Peter Marat.«
So weit stimmte das auch. Peter Marat Lazar.
»Du hast Literatur und Psychologie in Cornell studiert, stimmt’s?«, fragte er.
»Du hast die Akte wirklich genau durchgelesen, wie?«
»Natürlich hab ich das. Ich frage mich nur, warum eine Sekretärin, die Literatur studiert hat, glaubt, dass sie einen siebzehn Jahre alten Mord aufklären kann? Hast du auch nur die geringste Ahnung, wie du das anstellen sollst?«
Sie wandte den Blick ab. »Ich habe einiges gelesen«, erwiderte sie.
»Gelesen. Ah ja.«
Erschöpfung überrollte sie wie eine mächtige Woge. »Ich mache das nicht aus Spaß, Seth«, erklärte sie. »Ich fühle mich dazu gezwungen. Vielleicht bin ich geistig etwas gestört nach all diesen Albträumen. Das würde mich nicht überraschen, aber es würde auch nichts ändern. Ich muss einfach tun, was zu tun ist.«
»Was ist denn zu tun?«, wollte er wissen. »Was ist dein Plan?«
Sie zögerte. »Ich arbeite noch daran«, gestand sie. »Es ist erst mal gut, dass Victor sich für mich interessiert …«
»Er soll sich bloß vorsehen«, knurrte er.
»Für meine Zwecke ist es exzellent«, korrigierte sie ihn. »Ich hatte Glück, dass ich gestern nach Stone Island gerufen worden bin. Ich suche nach Erinnerungen, nach Hinweisen, irgendwelchen Zeichen. Ich bin da, ich passe auf. Ich tu mein Bestes. Der Traum lässt mir auch keine andere Wahl.«
»Also willst du mir sagen, dass du eigentlich überhaupt keinen Plan hast.«
Sie stieß einen traurigen
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