Die Nacht von Granada
offenbar nichts. Die, die alles trägt und alles zusammenhält. Sogar, wenn die Lage verzweifelt scheint. So war es schon damals, nicht wahr? Als Maria und du junge Mädchen waren und ihr noch in eurem schönen blauen Haus im Judenviertel gelebt habt.«
Ihre hellen Augen begannen zu glitzern.
»Blieb mir denn je eine andere Wahl?«, erwiderte sie. »Damals – wie auch heute?«
Vor ihnen eine Wand aus beißendem Rauch.
»Wie sollen wir da nur durch?«, fragte Lucia verzweifelt und blieb wie angewurzelt stehen. »Wir alle miteinander werden lichterloh verbrennen!«
»Wir müssen weiter.« Rashids Stimme klang fest. »Bis zum blauen Haus ist es nicht mehr weit. Zieh dir das Tuch über den Mund und komm!«
»Das hast du schon so oft gesagt!«, fuhr sie auf. »Was soll ich dort überhaupt? Ich bin müde. Meine Füße tun weh. Und meine Lunge auch, von der feuchten Luft im Kerker. Ich will nach Hause – zu Vater, Tante Pilar und Nuri!«
Er packte sie plötzlich an den Händen und hielt sie so fest, dass Lucia aufschrie.
»Ich weiß, du hast einiges durchmachen müssen«, sagte er. »Doch das gibt dir noch lange nicht das Recht, dich jetzt wie ein verwöhntes Kind aufzuführen. Siehst du nicht, wie schlecht es Abu geht?« Er deutete auf das Maultier, das sie sicher bisher unversehrt gebracht hatten. »Er bewegt sich kaum noch. Seine Schmerzen müssen unmenschlich sein. Wie kannst du dich da so egoistisch aufführen?«
Blind vor Tränen sah Lucia ihn an.
Da war es wieder, jenes süße Ziehen im Bauch, das sie jedes Mal in seiner Nähe überkam! Eine ganze Zeit hatte sie gehofft, nein sogar gewusst, dass es Rashid ähnlich erging, sobald er mit ihr zusammen war. Doch jetzt schien plötzlich alles verändert. Er war so fremd, so hart, so ganz und gar versunken in seiner eigenen Welt!
Sie fuhr zusammen, als direkt vor ihr ein brennender Balken den Weg versperrte. Rashid stieß ihn mit einem beherzten Fußtritt zur Seite, dann konnten sie endlich weiter.
»Ich werde nicht lange bleiben können«, hörte sie ihn sagen. »Die Söhne Allahs brauchen mich. Unser Kampf hat gerade erst begonnen. Ich muss zu ihnen!«
»Du willst uns allein lassen und zu den Söhnen Allahs gehen – nach allem, was geschehen ist?«, sagte Lucia entsetzt. »Das kannst du nicht, sei doch nicht so grausam, Rashid!«
»Du bist doch nicht allein. Die ganze Familie wird um dich sein, beinahe so wie früher«, erwiderte er. »Deine Tante ist eine kluge Frau. Was Pilar rät, darauf kann man getrost vertrauen.«
Wieso stieg bei seinen harmlosen Worten Zorn in ihr auf? Sie wusste doch, dass er recht hatte. Ohne Tante Pilar wäre womöglich alles noch viel schlimmer gekommen. Und dennoch schmerzte es sie, dass Rashid so tat, als könnte ihre Tante ihn ersetzen.
»Duck dich!«, hörte sie ihn rufen.
Gerade noch rechtzeitig, denn von oben prasselte abermals loderndes Gebälk auf die enge Gasse herab. Das Maultier machte einen Satz zur Seite, bis Rashid es wieder einfangen konnte. Zum Glück hatten sie Kamals Gurte so fest gezurrt, dass er nicht herunterfiel.
»Hilfe!«, rief er mit schwacher Stimme. »Hilfe!«
»Nur die Ruhe, Abu«, sagte Rashid liebevoll. »Wir sind gleich am Ziel!«
Sie kämpften sich weiter, durch Wolken von Asche und Staub, als wäre Granada gerade dabei, sich in qualmende Einzelteile aufzulösen. Die meisten Häuser waren aus Stein und daher nicht so leicht entflammbar, aber gerade in den Christenvierteln, die in den vergangenen Jahren schnell gewachsen waren, gab es viele hölzerne Ställe oder Vorratsschuppen, die rasch Feuer fingen, und Fensterläden, die ebenfalls lichterloh brannten. Sobald das Feuer dann die Möbel erfasst hatte, war es kaum noch zu löschen. Von Ruß starrende Fenster, wohin sie auch schauten.
Je näher sie dem einstigen Judenviertel kamen, desto finsterer wurde es. Längst war der Mond hinter schnell ziehenden Wolken verschwunden. Nur der Feuerschein, der vom Albaycín herüberleuchtete, spendete diffuses Licht.
»Wir sind da«, sagte Rashid. »Hier muss es sein.«
Das Haus aus ihren Träumen, das sie sonst nur von kurzen, verstohlenen Besuchen her kannte!
Lucia fühlte sich plötzlich beklommen. Hier hatten Mutter und Tante Pilar gelebt. Hier musste ihr Großvater gestorben sein – der wohlhabende jüdische Gewürzhändler Samuel, der sich selbst strikt geweigert hatte, das Christentum anzunehmen, aber darauf bestanden hatte, seine beiden Töchter christlich taufen zu lassen, um ihnen auch
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