Die Normannen
entnehmen, dass es verschiedene Gründe waren, welche die Normannen zur Auswanderung nach Italien veranlassten: Der Ruf des Südens, indem wie im gelobten Land der Bibel Milch und Honig zu fließen schienen; ferner die dortige unsichere politische Lage, die junge Leute anzog, um sich als Ritter eine neue Existenz aufzubauen. Hinzu kam, dass in der Normandie des 11. Jahrhunderts für viele von ihnen kein Platz mehr war. Wie in anderen Gebieten Europas blieben bei zunehmender Bevölkerung die Erträge der Landwirtschaft bescheiden. Außerdem setzte sich damals in den Adelsfamilien das Prinzip der Primogenitur durch: Nur der Erstgeborene beerbte den Vater, die anderen Söhne mussten anderswo ihr Auskommen finden. Auch Konflikte von Angehörigen des mittleren und niederen Adels mit dem Herzog sowie untereinander konnten ein Motiv dafür sein, in der Fremde sein Glück zu suchen. Auslöser waren beispielsweise die politische Instabilität nach dem Tod der Herzöge Richard II. (1026) und Robert I. (1035) sowie das harte Durchgreifen Herzog Wilhelms ab Mitte der 40er Jahre des 11. Jahrhunderts.
Süditalien selbst war ein ausgesprochen unübersichtliches Territorium, über das drei Mächte die Herrschaft beanspruchten: die deutschen Könige, die sich als Nachfolger der weströmischen Kaiser betrachteten; die oströmischen Kaiser in Byzanz, die diesen Anspruch nicht anerkannten und sich als alleinige Erben Roms ansahen; und schließlich die Bischöfe von Rom, die Päpste, die sich auf die bereits erwähnte sogenannte Konstantinische Schenkung beriefen, aus der sie eine päpstliche Einflussnahme auf Süditalien ableiteten. Doch keiner von ihnen war in der Lage, seinen Anspruch durchzusetzen.
Im 6. Jahrhundert hatten die von nördlich der Alpen eingewanderten Langobarden große Teile Italiens erobert. Lediglich einige Küstengebiete und der Süden der Halbinsel waren unter byzantinischer Herrschaft geblieben. Im Jahr 774 eroberte der Frankenkönig Karl der Große das langobardische Königreich mit der Hauptstadt Pavia (35 km südlich von Mailand) und vereinigte es mit seinem fränkischen Reich. Nur das südlich von Rom gelegene langobardische Herzogtum Benevent konnte seine Selbständigkeit bewahren, indem es im Jahr 787 Karls Hoheit anerkannte. Später spaltete es sich in drei Fürstentümer (Benevent, Capua und Salerno). An der Westküste Italiens, imSüden von Rom, entstanden in nachkarolingischer Zeit einige kleinere Stadtstaaten (offiziell Herzogtümer): Gaeta, Neapel, Amalfi und Sorrent (s. Karte S. 60). Sie erkannten zwar die Herrschaft des byzantinischen Kaisers an, waren aber in der Praxis unabhängig. Apulien und Kalabrien waren hingegen byzantinische Provinzen, während das bisher ebenfalls byzantinische Sizilien im 9. und 10. Jahrhundert von den Arabern erobert wurde.
Die politischen Grenzen entsprachen jedoch nicht immer den kulturellen und religiösen. Die Bevölkerung Kampaniens, Nord- und Mittelapuliens sprach eine auf das antike Latein zurückgehende Sprache und fühlte sich dem römisch-katholischen Christentum zugehörig; die Bevölkerung Südapuliens und Kalabriens war hingegen vorwiegend griechischsprachig und feierte die Liturgie im byzantinischen Ritus. Im Westen und Süden Siziliens lebten hauptsächlich eingewanderte Araber und Berber sowie Einheimische, die die arabische Sprache und den Islam angenommen hatten; im Nordosten der Insel hatte ein Großteil der Bevölkerung dagegen die griechische Sprache und das orthodoxe Christentum bewahrt. Daneben gab es in ganz Süditalien, vor allem in den Städten, bedeutende jüdische Gemeinden. In dieses Mosaik von Völkern, Kulturen und Religionen drangen nun die Normannen ein und brachten es im Laufe eines Jahrhunderts unter ihre Herrschaft.
Anders als die normannische Eroberung Englands war die Herrschaftsbildung im Süden kein einheitlicher Prozess, sondern erfolgte in mehreren Phasen. Sie begann mit einer langsamen und regional unterschiedlichen Sesshaftwerdung von einigen Hundert Rittern und wenigen Frauen. Zu Beginn des 11. Jahrhunderts lebten vermutlich nur etwa 250 normannische Ritter in Süditalien; erst nach 1040 nahm ihre Zahl deutlich zu: Moderne Historiker vermuten, dass im Laufe des 11. Jahrhunderts etwa 2000 bis 2500 Normannen (aus der Sicht der Süditaliener waren alle von nördlich der Alpen kommenden Migranten «Nordmänner») einwanderten. Es handelte sich also um keine «Völkerwanderung» wie bei den germanischen Langobarden,
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