Die Prophezeiung
und Julia ein Zeichen und eilte in Richtung des Treppenhauses davon, das menschenleer war. Wie immer, wenn in den Fluren des Colleges die Studenten fehlten, legte sich eine seltsame Stille über das ganze Gebäude. Und Katie fühlte sich beobachtet.
Sie tastete in ihrer Tasche nach dem Handy und zog es hervor. Vielleicht hatte der Duke doch noch einmal angerufen. Alles in ihr brannte, jemandem von diesem Nachmittag zu erzählen, von Benjamins seltsamem Verhalten, seinen Vorwürfen und von dem Versprechen, das er ihr abgenommen hatte.
Mit Sebastien wäre es leicht gewesen, darüber zu sprechen. Sebastien, ihre einzig wahre Liebe. Was an sich schon totaler Irrsinn war, wenn nicht sogar tragisch – aber Tragik stand nicht auf Katies Radar. Sie war gerade mal achtzehn und die einzig wahre Liebe ihres Lebens …
Sie wollte das Handy in dem Moment wegstecken, als es klingelte. Nur gut, manche Gedanken mussten nicht zu Ende gedacht werden.
Katie starrte auf die Nummer, die aufleuchtete.
Nein, er war es nicht.
Es war ihre Mutter.
Was hatte der Anruf zu bedeuten? Ihre Mutter hatte sie noch nie angerufen. Seit sie denken konnte, hatte es zwischen ihnen diesen Puffer gegeben. In Chemie hatte Katie davon gehört, dass es Elemente gibt, die keine Verbindungen eingehen. Gleich geladene Ionen stoßen einander ab und erzeugen so einen Zwischenraum. Katie nannte es Hohlraum. Genau das hatte sie immer zu Sebastien gesagt: »Zwischen meiner Mutter und mir, da gibt es einen Hohlraum, verstehst du? So etwas wie ein Vakuum.«
»Du übertreibst, Katie. Wie immer.«
»Nein. Sie ist nicht wie deine Mutter. Ich kann mich nicht erinnern, dass sie mich je in den Arm genommen hat.«
Katies Mutter schien eine absonderliche Scheu zu haben, ihre eigene Tochter zu berühren oder mit ihr Gespräche zu führen, die über Alltagsdinge hinausgingen. Die regelmäßigen, wenn auch seltenen Telefonanrufe überließ sie sowieso ihrem Mann.
»Was willst du, Mutter?« Katie lief die Treppe hinunter und bog in den Tunnel ein, der durch das Untergeschoss hinüber in das Sportcenter führte. Sie brauchte nach alldem, was heute passiert war, eine Auszeit. Eine Stunde, in der einfach nur ihre Muskeln arbeiteten und sie nicht denken musste. Ihr Ruf als Sportass hatte sich schnell verbreitet und vor allem die Jungs rackerten sich an den Geräten ab, um auf sie Eindruck zu machen. Aber Muskeln und ein Waschbrettbauch, die nur antrainiert wurden, um im Sommer mit nacktem Oberkörper gut auszusehen, beeindruckten Katie wirklich nicht.
»Wie geht es dir?« Plötzlich klang die Stimme ihrer Mutter unglaublich nah.
»Seit wann interessiert dich das?«
»Fühlst du dich … dort oben wohl?«
Katie runzelte die Stirn.
»Dort oben? Was meinst du damit?« Wollte sie endlich ihrer Tochter die Wahrheit erzählen? Dass Katie dasselbe College besuchte wie sie damals? Das wäre eine interessante Wende in ihrer Beziehung.
»Du solltest es nicht von jemand anderem erfahren.«
Natürlich. Sie hätte es sich denken können. Ihrer Mutter ging es nicht um ihre einzige Tochter, sondern um ihren Ehemann.
»Was denn, ist er gestorben?«
Schweigen in der Leitung.
»Nein.«
»Schade.«
Sie hörte, wie ihre Mutter Luft holte.
»Warum sagst du so etwas?«
Katie bog in den Flur ein, der zum Fitnesscenter führte, das, wie alles im Sportcenter, hypermodern war. »Solange du dich nicht scheiden lässt, ist das der einzige Weg, ihn loszuwerden.«
Würden sie jetzt wieder einen Psychologen anheuern? Oder konnte man ins Gefängnis kommen, wenn man seinem Vater den Tod wünschte?
Nein, vermutlich kam man in die Hölle.
Katies Mutter war von Zeit zu Zeit Buddhistin. Immer wenn sie ihre Ruhe haben wollte, zog sie sich in ihr Schlafzimmer zurück, wo ein kleiner Altar aufgebaut war. Ihr Vater war Methodist und Katie – Atheistin. Was bedeutete, dass die Hölle nicht für sie zuständig war.
»Es geht nicht um deinen Vater.«
»Sondern?« Sie blieb vor ihrem Spind stehen und zog den Schlüssel hervor.
»Um Sebastien.«
Katie zuckte zusammen.
Sebastien.
Noch nie, nicht ein einziges Mal hatte ihre Mutter, geschweige denn ihr Superdad, seit dem Unfalltag ihr gegenüber diesen Namen in den Mund genommen.
»Ich dachte, ich sollte dich anrufen«, hörte sie die hohe weiche Stimme am anderen Ende.
Was hatte das zu bedeuten?
Was war passiert?
Von einer Sekunde zur anderen begann ihr Herz zu hämmern.
»Was soll mit ihm sein? Hat seine Mutter ihn in ein Pflegeheim
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