Die Prüfung: Kriminalroman (German Edition)
ordentlich etwas abbekommen hatte, passte zu dem, was Lieke erzählt hatte. Bei dem Gedanken an die junge Assistenzärztin musste Schönlieb unwillkürlich lächeln.
Dann wurde ihm wieder bewusst, wo er gerade saß, und das Lächeln verschwand. Schönlieb saß neben Johann Sattler. Sein zweiter Tag an der Uni hatte begonnen. Am Abend zuvor hatte er sich das Vorlesungsverzeichnis angeschaut und herausgesucht, in welcher Vorlesung sie gesessen hatten. Anschließend hatte er sich die nächste Vorlesung aus dem gleichen Semester herausgesucht und gehofft, dass Johann Sattler auch diese besuchen würde. Er hatte Glück gehabt.
Wie zufällig war er neben Johann aufgetaucht und hatte sich neben ihn gesetzt. Wenig später war Alexander Röhnsdorf durch die Tür gekommen und hatte sich zu ihnen gesetzt.
»So schlimm sieht es nun auch nicht aus!«, fuhr Alexander ihn an. Schönlieb wurde bewusst, dass er noch immer dessen blaues Auge anstarrte, und blickte schnell nach vorne zum Professor, der seit einigen Minuten seine Vorlesung hielt.
»Wie ist das denn passiert, also das mit seinem Auge?«, flüsterte Schönlieb Johann zu.
»Er hat sich mit einem Kumpel geprügelt und den Kürzeren gezogen«, antwortete Johann schnell und leicht genervt.
»Mit einem Kumpel? Wieso?«, hakte Schönlieb nach. Johann zuckte mit den Schultern.
»Keine Ahnung, musst du ihn selbst fragen. Ich weiß nur noch, dass wir alle aus dem Laden rausgeflogen sind. Ich war an dem Abend ziemlich voll, und die beiden wollten danach nicht mehr darüber sprechen.« Jetzt kicherte Johann plötzlich ein bisschen, denn anscheinend fand er die Erinnerung an den Abend lustig.
»Wo war das?«, fragte Schönlieb. Johann blickte ihn irritiert an. Schönlieb bemerkte, dass er ziemlich forsch und fordernd gefragt hatte, als ob er sich in einem Verhör befand. Hier war er jedoch nicht der Kommissar, sondern der neue Student, der, so musste es Johann vorkommen, ziemlich neugierig war.
»Auf dem Kiez, Hamburger Berg«, flüsterte Johann dann doch bereitwillig.
»Meine Herren, wenn Sie die Vorlesung nicht interessiert, gehen Sie bitte hinaus.« Der Professor stand plötzlich neben ihrer Sitzreihe und schaute zu Johann und Schönlieb.
»Schon gut, Herr Professor Meininger. Wir passen jetzt auf«, sagte Johann und wandte sich, als Professor Meininger außer Hörweite war, wieder Schönlieb zu. »Bei dem musst du aufpassen. Der ist streng. Es sei denn, du bist ein hübsches Mädchen«, fügte Johann noch an und grinste dabei schief.
»Wie meinst du das?«, fragte Schönlieb, doch anstatt zu antworten, machte Johann nur eine abweisende Handbewegung und schaute wieder konzentriert nach vorne.
Professor Meininger schien nicht so uninteressiert an den Reaktionen auf seine Vorlesung wie noch der gestrige Professor. Überhaupt war dies eine ganz andere Art von Vorlesung. Der Professor sah aus wie ein Verkäufer auf einem dieser Verkaufssender. Schönlieb schätzte ihn auf Mitte fünfzig. Er trug einen eng geschnittenen braunen Anzug, sehr kurze blonde Haare und hatte gebräunte Haut und unnatürlich weiße Zähne. Er stiefelte immer wieder an den Sitzreihen vorbei, während er in ein Funkmikrofon sprach. Ab und zu pickte er sich Studenten heraus, denen er überraschende Fragen stellte. Einige stammelten mehr, als dass sie antworteten. Das trug zu einer ziemlichen Anspannung und Aufmerksamkeit der Studenten bei.
Nicht nur Schönlieb war froh, als die Vorlesung endlich vorbei war. Er hatte dunkle Schweißflecken unter den Achseln, die ganze Zeit war er nervös gewesen und hatte gehofft, dass Meininger ihn nicht ansprechen würde, obwohl gerade Schönlieb doch nun überhaupt nichts zu befürchten hatte. Das alles konnte ihn doch wirklich kaltlassen. Stattdessen fühlte er sich nach gerade mal zwei halben Tagen hier an der Uni unangenehm an seine Schulzeit und Studienjahre erinnert, wo es vor allem darum gegangen war, wie man gegenüber seinen Mitschülern und Kommilitonen wirkte, und dass man sich ja nicht blamierte. Jetzt würde er sich erst mal Johann und Alexander aufdrängen und sie zum Mittag begleiten. Er spürte, dass sie ihn eigentlich nicht dabeihaben wollten, und plötzlich erinnerte er sich an Gefühle von damals, die er viel lieber weiterhin verdrängt hätte. Innerlich sagte er sich mehrmals, dass das hier etwas komplett anderes war. Er war verdeckter Ermittler. Er hatte einen Mordfall aufzuklären. Er war ein professioneller Kommissar.
Alexander und Johann
Weitere Kostenlose Bücher