Die Prüfung: Kriminalroman (German Edition)
Lieke nicht mehr da. Er blickte sich um, konnte sie jedoch nirgends entdecken. Plötzlich stand stattdessen Bianca wieder vor ihm.
»Hey, da bist du ja wieder!«, rief sie ihm viel zu laut zu, obwohl er doch direkt vor ihr stand.
»Hey, da bist du ja wieder«, antwortete Schönlieb wenig begeistert und versuchte, durch die geöffnete Balkontüre zu sehen, ob Lieke vielleicht einfach reingegangen war. Aber er konnte sie nicht entdecken.
»Ich bin schon ganz schön betrunken«, schrie Bianca ihn weiter an.
»Das sehe ich.«
»Du bist süß«, nuschelte sie und lachte ein schrilles, helles Lachen. Hexenlachen , dachte Schönlieb.
»Danke«, sagte er knapp.
Plötzlich sprang Bianca auf ihn zu, schlang ihre Arme um seinen Hals und bewegte dabei ungeschickt die Hüften. Sie roch nach Bier und Zigaretten.
»Komm, wir tanzen«, lallte sie.
Schönlieb blickte sich Hilfe suchend um. Wo war Lieke?
Kapitel 24
So einen Kopf hatte Schönlieb das letzte Mal vor drei Jahren gehabt, nach einem Abend, an den er sich nicht mehr vollständig erinnerte. Sein Schädel fühlte sich geschwollen, schwer, unpassend an. Wie eine Fehlkonstruktion. Entschuldigung, das ist nicht mein Kopf, er ist zu schwer, seit sechsundzwanzig Jahren trage ich die leichtere Version, könnte ich die bitte wieder haben?
Ein paar Sekunden brauchte er, dann erschrak er gleich zweimal kurz hintereinander. Das erste Mal, als er begriff, dass es schon verdammt spät war und er ins LKA musste. Das zweite Mal, als er neben sich Bianca im Bett liegen sah. Vorsichtig hob er die Bettdecke an. Bianca war nackt, und er war es auch, zwischen ihnen im Bett lag ein gebrauchtes Kondom. Entsetzt und angewidert sprang Schönlieb aus dem Bett, so hastig, dass sich sein Fuß in der Bettdecke verhakte und er kopfüber auf den Holzfußboden stürzte. Er schmeckte Blut. Alles drehte sich.
Er rappelte sich langsam wieder auf und wankte ins Bad. Der Spiegel im Bad zeigte nicht ihn, sondern einen aufgedunsenen Mann mit grauer Haut und einer aufgeplatzten Unterlippe. Schönlieb nahm die Unterlippe zwischen die Finger und betrachtete die Wunde. Er beschloss, dass sie von alleine heilen würde. Anschließend stellte er sich unter die kalte Dusche. Er empfand das kalte, betäubende Wasser als gerechte Strafe und ertrug es, bis es schmerzte. Danach fühlte er sich etwas besser, aber noch immer ziemlich scheußlich.
Schönlieb konnte nicht fassen, wie Bianca in seinem Bett hatte landen können. Du verdammter Volltrottel! Er verfluchte sich selbst und ging wieder in sein Schlafzimmer, wobei er darauf bedacht war, dies möglichst leise zu tun. Auf keinen Fall wollte er Bianca wecken, die noch immer leicht schnarchend in seinem Bett lag. Er schlich zum Kleiderschrank und nahm vorsichtig ein paar Klamotten heraus. Beim Verlassen des Schlafzimmers schaute er noch einmal zurück auf Bianca und hoffte, er würde sie nie wiedersehen. Dann zog er sich an, putzte leise die Zähne und schlich sich aus der Wohnung, seiner Wohnung .
Er zog seine Haustür kräftig zu, sodass es laut knallte. Er hoffte, Bianca würde dadurch aufwachen und sich dann möglichst schnell aus dem Staub machen.
Draußen steuerte er direkt auf den Kiosk zu, der zwei Häuser weiter lag. Die Zigarette gestern hatte ihn auf den Geschmack gebracht. Er würde sich schnell eine Packung kaufen.
Der Kiosk wurde von Arjun betrieben. Einem Inder, der vor zwanzig Jahren nach Hamburg gekommen war. Da sein Ingenieurdiplom von den deutschen Behörden nicht anerkannt wurde und er, nachdem er sich zwei Jahre lang mit den Behörden herumgeschlagen hatte, die Hoffnung aufgegeben hatte, hatte er beschlossen, einen Kiosk zu eröffnen. Nach längerem Suchen hatte er einen maroden Kiosk gefunden, der seit einiger Zeit leer zu stehen schien. Nach zähen Verhandlungen mit dem Vermieter, der aus dem Laden eigentlich eine weitere Wohnung machen wollte, hatte Arjun sich eingemietet. Jetzt betrieb er den Kiosk schon siebzehn Jahre, und mittlerweile hatte er fast vergessen, dass er mal ein ausgebildeter Ingenieur war.
»Guten Morgen, Christoph«, trällerte Arjun, als das Klingeln ertönte, das jeden Kunden begleitete, und Schönlieb in den Kiosk trat.
Arjun hatte sich trotz der zwanzig Jahre einen, wie Schönlieb fand, sympathischen indischen Akzent bewahrt. Teils weil er ihn sich nie ganz abgewöhnen konnte, teils weil er das auch gar nicht wollte. Die Leute mochten seinen Akzent.
»Moin«, antwortete Schönlieb, in seinem Kopf dröhnte
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