Die Quelle der Seelen: Thriller (German Edition)
wurde und dahinsiechte.
Die Ärzte wussten nicht, wie die Krankheit hieß, geschweige denn, wie man sie heilen konnte. Nur eines wussten sie: Es war das gleiche Krankheitsbild, das die Mutter des kleinen Sergei getötet hatte.
Vera fühlte sich körperlich geschwächt von den Seelenqualen und dem Schlafmangel. Sie verließ das Kinderzimmer und trat nach draußen auf die Veranda hinter dem Haus, blickte hinaus in den Garten, auf Sergeis Schaukel und auf das Trampolin, die beide unbenutzt dastanden, seit der Junge krank war. Das Haus ihres Schwiegersohnes stand in einem exklusiven Vorort von Washington. Ihre Tochter hatte immer davon geträumt, hier zu leben; deshalb hatte die Familie sich hier niedergelassen, als Veras Schwiegersohn seinen Dienst bei der russischen Botschaft quittiert hatte. Die Villa war umgeben von Symbolen des Wohlstands – dem amerikanischen Traum, den sie damals in Kiew nie zu träumen gewagt hatten.
Doch für Vera war das alles wie ein Fluch. Der Lohn für die harte Arbeit in Amerika lachte ihr höhnisch ins Gesicht, weil sie mit ansehen musste, wie ihre Familie wegstarb. Sie verfluchte Gott, dass er nicht sie niedergestreckt hatte, sondern ihre Tochter oder ihren Enkel. Es war eine grausame Laune des Schicksals: Sie war trotz ihres fortgeschrittenen Alters gesund und voller Energie, hatte aber niemanden, mit dem sie dieses Glück hätte teilen können.
Und jetzt war sie ganz allein in diesem großen Haus, denn Sergeis Vater war nach Russland gereist, um einen weiteren törichten Versuch zu unternehmen, eine Wunderheilung zu finden. Er hatte gesagt, dass die russischen Ärzte zuversichtlich seien, Sergei helfen zu können, doch sie brauchten vorher noch einmal – zum letzten Mal – Raechens Expertise.
Vera hatte mit angesehen, wie ihr Schwiegersohn Ilja am Schmerz über den Zustand seines Sohnes beinahe zerbrochen wäre. Den Tod seiner Frau hatte er nie verwunden, sich aber damit getröstet, dass sie in Sergei weiterlebte. Jetzt wurde ihm auch noch das Letzte entrissen, das er liebte. Er hatte nach einer Heilungsmöglichkeit für den Jungen gesucht wie nach einer Stecknadel im Heuhaufen, hatte die ganze Welt abgesucht nach Krankenhäusern und Ärzten, doch sie alle hatten nur mit Mitleid und medizinischer Neugier hinsichtlich der unbekannten Krankheit reagiert, die das Kind dahinraffte.
Ilja hatte sich auf homöopathische Medizin verlagert, auf Umstellungen in der Ernährung, sogar auf Gebete, doch alles blieb ohne Erfolg. Deshalb hatte Ilja, als der Telefonanruf kam, der ihm die Heilung versprach, die Beweggründe seiner Arbeitgeber gar nicht erst hinterfragt, denn sie hatten ihm neue Hoffnung geschenkt – etwas, das in Ilja so rasch dahinschwand wie das Leben seines Sohnes.
Mitten in der Nacht hatte Ilja sich auf den Weg gemacht. Inzwischen war er seit fünf Tagen fort. Er meldete sich zwischendurch immer wieder und versprach, bald wieder zu Hause zu sein.
Obwohl Vera anfangs einen Hauch von Hoffnung verspürt hatte und nun darauf wartete, dass ein Wunder geschah, empfand sie bald nur noch Furcht. Was immer es sein mochte, worum man Ilja gebeten hatte – sie wusste, dass die schlimmste aller Sünden dazugehörte, denn ihr war bekannt, welcher Beschäftigung ihr Schwiegersohn nachgegangen war, bevor er seinen Dienst bei der russischen Regierung quittiert hatte: Er war darauf spezialisiert, zum Wohl des Vaterlands Dinge zu tun, über die die Regierung offiziell kein Wort verlor – Dinge, die seine Seele zu ewiger Verdammnis verurteilten. Und während Iljas Ansporn früher die Liebe zum Vaterland gewesen war, eher vielleicht sogar noch die Liebe zum Geld, war seine Motivation diesmal weitaus größer. Jetzt motivierte ihn die Liebe, die er für seinen Sohn empfand. Vera wusste, dass er nicht versagen würde, egal welche Hindernisse er bewältigen musste. Ilja war ein Mann ohne Seele – die hatte er bereits vor Jahrzehnten auf Weisung des KGB verkauft. Er war ein Mann, der für sein Land gemordet hatte, und Vera konnte sich nur zu gut vorstellen, zu was er fähig war, wenn er es für sein Kind tat.
Bevor sie sich umdrehte, um zurück ins Haus zu gehen, blickte sie noch einmal auf die Schaukel und stellte sich vor, dass der kleine Sergei wieder darauf saß. Vielleicht kam es ja doch dazu … Sie betete, dass Iljas Auftraggeber ihr Versprechen hielten. Und als sie die Tür öffnete, sprach sie abschließend ein Gebet und bat Gott, jeden zu verschonen, der Ilja Raechen in die Quere
Weitere Kostenlose Bücher