Die Rache der Heilerin: Roman (German Edition)
gedeutet habe, stammt sie aus der Normandie und hat während des Aufstandes der königlichen Prinzen ihre Familie und ihren Besitz verloren. Das Leben scheint ihr wirklich übel mitgespielt zu haben.«
»Nun, da ist sie in diesen schwierigen Zeiten nicht die Einzige«, erwiderte Yvain hart.
Erst in der Nacht, als er allein in dem Bett lag, das er so viele Jahre mit Helen, seiner Frau, geteilt hatte und wo auch immer mindestens eines ihrer kleinen Kinder bei ihnen geschlafen hatte, begriff er, was ihn an Adela so aufbrachte. Sie wirkte so verloren, wie er sich seit dem Tod von Helen und der Kinder fühlte.
*
Adela richtete sich auf. Zum ersten Mal nahm sie ihre Umgebung richtig wahr. Sie lag in einer kleinen Kammer. Der Laden vor dem schmalen Fenster war geschlossen. Ein Talglicht brannte in einer Halterung an der Wand. Draußen wehte ein starker Wind, der den Regen klatschend gegen das Haus trieb. Im Inneren des Gebäudes konnte sie entfernte Stimmen hören, deshalb nahm sie an, dass es Tag war.
Sie erinnerte sich noch gut daran, wie sie sich bereitwillig von der starken Strömung hatte unter Wasser ziehen lassen. Für Augenblicke hatte sie sich ganz leicht und frei gefühlt. Doch dann, als ihr Mund und ihre Nase sich mit Wasser füllten und sie zu ertrinken drohte, hatte sich plötzlich ein übermächtiger Lebenswille in ihr geregt. Instinktiv hatte sie gegen den tödlichen Sog zu kämpfen begonnen. Ihre nächste Erinnerung war, dass sie sich an Ranken festgeklammert und sich daran ans Ufer gezogen hatte. Dort war sie dann ohnmächtig zusammengebrochen, bis die Stimmen von Männern, die den Fluss absuchten, sie wieder zu sich gebracht hatten und sie weggerannt war.
Danach verwischten sich ihre Erinnerungen. Sie war lange umhergeirrt und hatte sich von Pflanzen ernährt, die in den Wäldern wuchsen. Einmal, als die Nächte kalt wurden, hatte sie sich auf ein Gehöft geschlichen und eine Decke gestohlen, die dort zum Trocknen im Freien hing. Dann war sie irgendwann ans Meer gelangt, wo die Schiffsleute sie am Ufer entdeckt und mit auf ihr Boot genommen hatten.
An die Reise zu dem Gutshof hatte Adela kaum noch Erinnerungen. Sie wusste nur, dass Marian, die alte Frau, die sie pflegte, freundlich und herzlich war. Deshalb vertraute sie ihr. Die Stimme ihres finsteren Neffen hatte sie manchmal von fern gehört. Sie war froh, dass sie ihn bislang noch nicht wieder zu Gesicht bekommen hatte, denn sie fürchtete sich vor ihm.
Ich habe meine Tochter töten wollen … Diese Erkenntnis hatte während der vergangenen Wochen in den Winkeln ihres Bewusstseins gelauert wie ein bedrohliches Tier. Nun überfiel sie Adela mit aller Macht. Ein tiefes Grauen vor sich selbst erfüllte sie. Lange lag sie reglos da und starrte auf die weiß gekalkte Wand der Kammer. Dann traf sie ihre Entscheidung. Sie hatte sich aus dem Fluss ziehen können, und später hatten wildfremde Menschen sie gerettet. Also schienen das Schicksal oder Gott von ihr zu verlangen, dass sie weiterlebte. Aber ihre selbst auferlegte Strafe würde sein, dass sie Robin und Luce nie wiedersehen würde.
*
Während Yvain den Verband am Hinterbein des jungen Schafes entfernte, blökte das Tier ungeduldig. Es war vor einigen Tagen in einem Dornengestrüpp hängen geblieben und hatte sich eine Wunde gerissen. Yvain überzeugte sich, dass die Verletzung nicht eiterte und gut verheilt war. Dann versetzte er dem Schaf einen Klaps und sagte: »So, nun mach, dass du davonkommst.« Das Tier hinkte erst noch einige Schritte. Doch als es bemerkte, dass es den lästigen Verband los war, sprang es laut mähend aus dem Verschlag und zu seiner Herde. Während Yvain ihm hinterherblickte, empfand er plötzlich einen tiefen Frieden.
Dieses Gefühl erfüllte ihn immer noch, als er wenig später auf sein Heim zuging. Licht schimmerte zwischen den Ritzen der Fensterläden hindurch in den kühlen, regnerischen Herbstabend. Mein Heim , dachte er. Das Wort hatte dabei zum ersten Mal seit langer Zeit etwas von seinem bitteren Klang verloren.
Seine Tante saß vor der Feuerstelle in der Stube und spann Wolle. Mit einem Seufzer der Erleichterung ließ sich Yvain neben ihr in einen Stuhl sinken. Er war den ganzen Tag auf dem Gut unterwegs gewesen und war rechtschaffen müde.
»Das Essen wird bald fertig sein«, erklärte Marian.
»Gut.« Er nickte.
»Adela konnte heute zum ersten Mal das Bett verlassen.« Seine Tante lächelte ihn an. »In drei, vier Wochen dürfte sie ihre Krankheit
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