Die Rache der Jagerin
Wendeltreppen zu diesem empor. Auch wenn es kein Stundenhotel war, war es doch deutlich schlichter als das Hilton.
Jenner hatte das Zimmer 224, und ich parkte so nahe wie möglich an unserer Treppe für den Fall, dass wir es nachher eilig hatten, von hier wegzukommen. Da wir bis auf meine Umhängetasche kein Gepäck bei uns hatten, machten wir wahrscheinlich den Eindruck eines Liebespärchens, das sich hier heimlich traf.
Ich legte die Tasche neben dem Doppelbett auf den Boden und drehte mich langsam um die eigene Achse. Die Bettwäsche war in geschmackvollen Farben gehalten, und die Möbel aus Walnussholzimitat waren blank poliert. An der Wand hing ein erfreulich unaufdringliches Bild, und das Zimmer war mit moderner Elektronik ausgestattet. Über kitschige oder altmodische Einrichtung konnte man sich nicht beklagen. Der Minikühlschrank sah neu aus, und die kleinen Shampoo- und Lotionfläschchen stammten von einer ordentlichen Drogeriekette. Für ein Versteck gar nicht so übel.
Oder wofür Jenner dieses Zimmer auch immer benutzte.
In der Toilettenkabine befand sich ein Spiegel mit einer Ablage darunter. Darin betrachtete ich mich, nachdem ich mein Geschäft erledigt hatte. Zwar hatte ich wieder etwas mehr Farbe im Gesicht, aber selbst zusammengebunden sahen meine Haare so aus, als hätte man mir ein totes Tier auf den Kopf geklebt. Mein Haar hatte auf jeden Fall ein gutes Shampoo nötig. Oder einen schnellen Schnitt mit einer scharfen Schere.
Als ich ins Zimmer zurückkam, saß Wyatt auf der anderen Bettseite. Er hatte den Blick auf die Wand gerichtet und war offensichtlich in Gedanken versunken.
»Vermutlich ist das eine furchtbar schlechte Idee«, bemerkte ich.
Mit hochgezogenen Brauen drehte er mir das Gesicht zu. »Warum?«
»In letzter Zeit waren Motelaufenthalte immer wie Vorboten für meinen baldigen Tod.«
Einige Sekunden lang starrte er mich stumpf an, bis er den Witz verstand und zaghaft lächelte. »Das ist nicht lustig, Evy.«
»Wieso musst du dir dann das Lachen so sehr verkneifen?«
Sein Lächeln wurde breiter, und seine Augen funkelten vergnügt. »Ich erinnere mich da an etwas Angenehmeres als bevorstehende Tode, wenn ich an unseren letzten Motelaufenthalt denke.«
Mir wurde flau im Magen. Auch ich erinnerte mich an diese Nacht, ein wenig verschwommen und undeutlich nach all der verflossenen Zeit und meinem zwischenzeitlichen Tod. Es war unser einziges Zusammensein vor meinem Ableben gewesen. Wie er mich gehalten hatte. Wie sein Mund über meine Haut gestrichen war. In jener Nacht hatte ich mich nach diesem Gefühl gesehnt – nach einem letzten elektrisierenden Augenblick, bevor mir alles entrissen wurde. Als hätte ich geahnt, dass mir die schlimmsten Schmerzen meines Lebens bevorstanden, und als hätte ich geahnt, dass ich zusehen musste, wie Wyatt bei meinen letzten Atemzügen das Herz brach.
Dieser eine Moment war mir teuer, auch wenn ich ihn bereute.
»Evy, es tut mir leid.«
Ich blinzelte. »Was tut dir leid?«
»Dass ich etwas gesagt habe, was dich betrübt.«
»Wyatt, lass das.« Ich setzte mich neben ihn, so dass die Matratze unter meinem Gewicht einsank. Ich hatte genug von dem andauernden Widerstreit meiner Gefühle und meiner Erinnerungen. Und von dem Kampf zwischen den Dingen, die ich wollte, und den Dingen, die tief in meinem Unterbewusstsein verankert waren und mich davon fernhielten. Ich hatte es ein für alle Mal satt, mir selbst im Weg zu stehen.
»Ich hätte über die Nacht damals keine Witze machen sollen«, gab er zurück.
»Ich denke, dass du es dir verdient hast, ehrlich mit mir sein zu dürfen.«
Er legte seine Hand offen vor mich hin, und ich schlang meine Finger darum und hielt sie fest. »Und ich glaube, dass du dir dasselbe verdient hast«, ergänzte er.
»Bin ich etwa nicht ehrlich zu dir?«
Er setzte sich so um, dass er mir geradewegs ins Gesicht blickte, und griff nach meiner freien Hand. Ich wehrte mich nicht. »Evy, ich glaube, wenn du wirklich ehrlich wärest, würdest du mich zu Brei schlagen. Oder mir aus reinem Frust Beleidigungen an den Kopf werfen. Oder vielleicht beides zusammen.«
Ich musterte sein Gesicht und hielt nach Anzeichen Ausschau, dass er mich nur aufziehen wollte. Nach einem Schimmer von Ironie, der die Aufrichtigkeit in seinem Ton Lügen strafte. Doch ich fand nichts. Wieso zum Henker glaubte ich, ich könnte eine Dreg-Krise verhindern, die sich auf die gesamte Stadt auswirkte, wenn ich nicht einmal meine eigenen Gefühle
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