Die Radleys
sicherzugehen, dass nichts übrig bleibt. Es ist, als würde man zusehen, wie ein komplettes anderes Leben in Flammen aufgeht.
Und ungefähr zu diesem Zeitpunkt beschließt Clara, etwas zu sagen, mit einer dünnen, aber stabilen Stimme.
»Was ist mit mir passiert?«
Ihre Eltern wenden sich ihr zu und sehen sie an, wie siedasitzt, in ihrem grünen Morgenmantel, den sie ihr gekauft haben, als sie zwölf oder dreizehn war, der ihr aber immer noch passt. Trotzdem sieht sie anders aus in dieser Nacht. Etwas ist verschwunden und etwas anderes ist dazugekommen, sie erkennen, dass ihr Gesicht nicht so betroffen aussieht, wie es sollte. Sie schiebt die Brille auf ihrer Nase tiefer, dann wieder hoch, als wolle sie ihre Sehschärfe überprüfen.
»Du wurdest provoziert«, erklärt ihr Helen, während sie ihr beruhigend das Knie tätschelt. »Dieser Junge hat dich provoziert. Das hat etwas ausgelöst. Weißt du, das kommt, weil du krank warst. Kein Fleisch gegessen hast. Weißt du, diese Krankheit, dieses Leiden, das haben wir dir vererbt. Es ist erblich und es verursacht eine bestimmte Art von Hunger, mit der man sehr vorsichtig umgehen muss.«
Insgeheim fällt Peter auf, wie lächerlich sich die Worte anhören.
Krankheit!
Leiden!
Eine bestimmte Art von Hunger!
Clara sieht ihre Mutter an, irgendetwas kapiert sie nicht. »Das verstehe ich nicht.«
»Nun, es ist eine seltsame biologische …«
Es reicht, beschließt Peter. Er unterbricht seine Frau und sieht seiner Tochter in die Augen.
»Wir sind Vampire, Clara«, erklärt er ihr.
»Peter!« Mit ihrem scharfen Flüsterton hält ihn Helen diesmal nicht auf, und er wiederholt seine Aussage mit ruhiger Stimme.
»Vampire. Genau das sind wir.«
Er beobachtet seine beiden Kinder und sieht, dass Clara das besser aufzunehmen scheint als Rowan. Nach allem, was sie getan hat, weiß er, dass ihr diese Wahrheit sogar eine gewisse Erleichterung verschaffen kann. Aber Rowan istdurch die Nachricht wie vor den Kopf geschlagen. Er sieht sprachlos aus.
»Ist das eine … Metapher ?«, fragt er, in dem Bemühen, an jener Realität festzuhalten, die ihm vertraut ist.
Peter schüttelt den Kopf.
Rowan schüttelt ebenfalls den Kopf, aber ungläubig. Er verlässt das Zimmer, zieht sich zurück. Sie sagen nichts, während seine Füße die Treppe erklimmen.
Peter sieht Helen an, in der Erwartung, dass sie wütend ist, aber das ist sie nicht. Sie ist traurig, besorgt und vielleicht auch ein bisschen erleichtert. »Du solltest ihm nachgehen und dich um ihn kümmern«, sagt sie.
»Ja«, sagt Peter. »Ich gehe schon.«
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KRUZIFIXE UND ROSENKRÄNZE UND WEIHWASSER
Siebzehn Jahre lang wurde Rowan von seinen Eltern kontinuierlich belogen. Er erkennt, dass sein ganzes bisheriges Leben nichts als Illusion war.
»Deshalb kann ich auch nicht schlafen«, sagt er zu seinem Vater, der neben ihm auf dem Bett sitzt. »Stimmt doch, oder? Deshalb habe ich ständig Hunger. Und deshalb muss ich Sonnenblocker nehmen.«
Sein Vater nickt. »Ja. Das stimmt.«
Rowan fällt etwas ein. Der Hautausschlag, und wie sie das genannt haben, was er angeblich hätte. »Fotodermatose!«
»Irgendwas musste ich dir sagen«, erklärt Peter. »Schließlich bin ich Arzt.«
»Du hast gelogen. Tag für Tag. Gelogen.«
Rowan entdeckt Blut auf der Wange seines Vaters. Peter bemerkt es auch. Er leckt seinen Daumen an und versucht, es wegzuwischen.
»Du bist ein sensibles Kind, Rowan. Wir wollten dich nicht kränken. Die Wahrheit ist nicht so verrückt, wie es jetzt scheint.« Er zeigt auf den Spiegel an der Wand. »Wir haben Spiegelbilder.«
Spiegelbilder! Was hat man davon, wenn man die Person nicht kennt, die einen anstarrt.
Rowan sagt nichts.
Er will dieses Gespräch nicht. Ohnehin wird er einJahrhundert brauchen, um mit dem fertig zu werden, was in dieser Nacht passiert ist, aber sein Vater redet so leichtfertig weiter, als würde er von einer belanglosen Geschlechtskrankheit oder vom Masturbieren erzählen.
»Und das ganze Gerede über Kruzifixe und Rosenkränze und Weihwasser ist bloß idiotischer Aberglaube. Katholisches Wunschdenken. Die Sache mit dem Knoblauch trifft allerdings zu.«
Rowan fällt ein, dass ihm jedes Mal schlecht wird, wenn er an einem italienischen Restaurant vorbeikommt oder jemand eine Knoblauchfahne hat, und einmal musste er würgen, als er sich im Hungry Gannet ein Hummusbaguette kaufte.
Er ist wirklich ein Freak.
»Ich will sterben«, sagt er.
Sein Vater kratzt sich am Kinn
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