Die Räder der Zeit: Roman (German Edition)
wusste dies, wie sie auch die Länge ihrer eigenen Haare und die Form ihrer eigenen Hand kannte. Paolina blickte erneut angestrengt über den substanzlosen Abgrund und versuchte herauszufinden, wie viele Chinesen sich an Bord des anderen Schiffs befanden. Konnte sie die Menschen von einem Ort zum anderen transferieren und jeden Übergang gegen einander ausgleichen, wie es bei einer perfekten mathematischen Gleichung funktionierte?
Die Welt war niemals so einfach und klar.
Oder war sie es doch?
Die Prinzipien einer Aktion waren für das Universum eine grundlegende Konstante. Gott hatte die Welt so erschaffen, dass sie klar, sauber und konsequent war. Angebliche Wunder, wie die Taschenuhr oder gar die Schweigende Welt selbst, waren nur ein Beweis dafür, dass das allgemeine Wissen unzureichend war. Das war nur zu offensichtlich, und sie hatte immer kaum verstehen können, warum das nicht auch anderen Menschen klar war.
Der Schöpfer hatte die Menschen mit einem Verstand gesegnet, damit sie über die Wunder Seiner Welt in aller Klarheit nachdenken konnten, nicht um jegliche Vernunft über Bord zu werfen und einem beliebigen Paragrafen aus einem beliebigen religiösen Werk Glaubwürdigkeit zu verleihen. Welchen Sinn hätte der Verstand sonst?
Wenn man die verhüllenden Schatten des Glaubens und der Unvernunft beiseiteschob und sich nur das ansah, was wirklich existierte, dann sprach dies für eine Welt, die klar und sauber war.
Vor Paolina befand sich ein Haufen Männer, die ihren Tod wünschten. Vor ihr lag das Problem, eine Besatzung mit der anderen auszutauschen, ohne sie dem Kampf, dem Feuer oder einem tödlichen Sturz anheimfallen zu lassen.
Wenn die Männer ihr dies erlaubten.
Siebenundvierzig Seelen auf dem Schiff vor ihr. Fast das Doppelte von dem, was auf der Erinyes verblieben war.
Doch der Ausgleich der Kräfte ist physisch , wurde ihr klar, nicht spirituell .
Sie tätschelte die Bugkanonen. Geschütze kleinen Kalibers, die auf Gestellen auflagen, mit denen man sie ausrichten konnte. Sie waren rückstoßfrei, damit sie den Kurs des Luftschiffs nicht beeinträchtigten.
Ich werde die Kanonen mitnehmen , dachte sie. Sie werden machtlos hinter uns schweben . Paolina wandte sich zu Gashansunu um und versuchte zu sprechen. Hier in der Schweigenden Welt bewegten sich ihre Lippen wie ein Fisch im Wasser.
Paolina brachte sie zurück in die Schattenwelt. Die chinesischen Luftschiffe hatten sich genähert und die Männer der Erinyes sich für den letzten, erschöpften Kampf gewappnet. »Bringt alle, die noch leben, auf das Hauptdeck«, sagte sie bestimmt. »Macht euch keine Gedanken darum, das Schiff zu verteidigen. Lasst sie sich alle an den Händen oder Armen gegenseitig festhalten. Ich wünschte mir, wir hätten Silberband, aber ein Seil muss eben auch reichen.« Es war schon schlimm genug, dass sie auch noch all die Männer auf dem sich nähernden Schiff im Auge behalten musste.
Gashansunu trat ans Heck, während sich Paolina den nahenden Kampf genauer ansah. Im Osten wurde es hell. Über tausend Meter unter ihnen blitzte ein Strand auf, und der Ozean spiegelte die letzten noch zu sehenden Sterne wider. Das Landesinnere bestand aus einer unfreundlich wirkenden Schlammebene und den Ausläufern des Dschungels; abgesehen von einigen Bränden, die die Überreste des britischen Militärstützpunkts in Cotonou erahnen ließen.
Wenn sie scheiterte, wenn sie abstürzten oder aus der Luft geworfen wurden, dann hätte sie nicht viel Zeit, dies zu bereuen. Paolina fragte sich, mit wie vielen sie sich retten könnte, wie sie auch sich selbst bei ihrer Ankunft gerettet hatte. Konnte sie einigen von ihnen das Genick brechen und die Herzen explodieren lassen, um die anderen zu retten?
Oder würde sie nur Boas und Gashansunu wegzaubern?
Es konnte wohl kaum als Verbrechen angesehen werden, jemanden umzubringen, der wenige Augenblicke später ohnehin tot wäre?
Oh doch, das konnte es. Erneut hatte sie wie ein Mann gedacht. Sie hasste es.
Paolina machte sich mit der Taschenuhr an die Arbeit und suchte die leuchtkäferartigen Lichter der Männer auf dem nahenden Luftschiff. Es hatte schon etwas von Zauberkraft, aber die Prinzipien der Aktion würden sie alle retten.
Gashansunu brauchte viel zu lange, um die Männer der Erinyes zu versammeln, obwohl Boas und Kitchens ihr lautstark dabei halfen. Diese Männer mochten vielleicht müde sein und den Tod vor Augen haben, aber sie wussten, wie man sich dem Kampf stellt. Was
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