Die Rettung
Ruderboot und ließ sich ziellos über den See treiben.
Hier fand sie die nötige Ruhe, um eingehend über ihr bisheriges Leben nachzudenken. Die Erkenntnis, dass sie nicht genau wusste, wer sie eigentlich war, versetzte ihr einen regelrechten Schock. Sie hatte sich immer von anderen Menschen leiten lassen. Bislang hatte sie noch nie alleine gelebt und hätte sich bis jetzt auch nie vorstellen können, dass sie im Stande war, ihr Leben alleine zu meistern. Sogar in den Jahren, in denen sie mit Kenneth durch die Weltgeschichte gezogen war, hatte sie sich in jeder Hinsicht auf ihn verlassen. Sie hatte ihr Haar lang wachsen lassen und es künstlich geglättet, weil damals jeder lange, glatte Haare bevorzugte. Sie hatte sich die damals populären Ansichten zu Eigen gemacht, um ja nicht von der Norm abzuweichen, und war später auf eine bürgerliche Grundhaltung umgeschwenkt, um Kenneth' Karriere nicht zu schaden. Eigentlich hatte sie so viel Energie darauf verschwendet, sich eine bestimmte Fassade zu schaffen, dass ihr wahres Selbst darüber völlig in Vergessenheit geraten war. Erst jetzt, wo sie so viel Zeit allein mit ihren Gedanken verbrachte, sah sie sich gezwungen, ihr Leben zu analysieren und zu entscheiden, welche ihrer Eigenschaften Teil ihres Charakters waren und welche sie sich anerzogen hatte.
Nur ein Bereich ihres Lebens hatte ihr allein gehört: Dylan. Diese Zeit konnte ihr niemand nehmen. Noch nicht einmal in das alte Gebäude, in dem sie so viele Jahre zu Hause gewesen war, hatte sie viel von sich eingebracht. Sie vermisste den großen, zugigen Kasten nicht; er war für sie untrennbar mit dem täglichen Kampf gegen Kenneth' Wutausbrüche verbunden. Erst jetzt wurde ihr bewusst, wie viel Zeit und Kraft es sie gekostet hatte, mit ihm zu leben. Nun, wo er fort war, blieb ihr auf einmal jede Menge Zeit, mit der sie nichts anzufangen wusste.
Sie fragte sich, ob es ihr wohl gelingen würde, einen Job zu finden, zumindest halbtags, damit sie einen Grund hatte, die Wohnung für ein paar Stunden zu verlassen. Oder vielleicht eine ehrenamtliche Arbeit. Irgendwer hier in der Stadt konnte doch sicher ein zusätzliches Paar Hände brauchen.
Die Vorstellung versetzte sie in eine freudige Erregung. Sie würde sich nützlich machen, vielleicht sogar ein bisschen Geld verdienen! Ein verträumtes Lächeln spielte um ihre Lippen. Warum war sie nicht schon früher auf diese Idee gekommen? Sie konnte herausfinden, was sie alles zu leisten vermochte. Der Gedanke war irgendwie beängstigend. Barri ließ die Ruder ins Wasser gleiten, nahm Kurs auf das Studio und ruderte langsam auf das Ufer zu.
Sie fand ohne große Schwierigkeiten einen Halbtagsjob in der Verwaltung des städtischen Krankenhauses. Dort saß sie an fünf Tagen der Woche vier Stunden lang am Empfang und fertigte Patienten ab. Zum ersten Mal in ihrem Leben ging sie einer geregelten Beschäftigung nach, was ihr Selbstwertgefühl deutlich hob. Ihr Leben bekam wieder einen Sinn. Sie fand neue Freunde und stellte zu ihrer Überraschung fest, dass es Menschen gab, die verstanden, dass sie unverschuldet in eine Zwangslage geraten war und die sie nicht dafür verurteilten.
Cindy zum Beispiel. Sie war ein paar Jahre älter als Barri und zweimal geschieden. Ihre drei Kinder waren längst aus dem Haus, und nun lebte sie allein mit ihrem dritten Mann, einem berufsunfähigen Invaliden, und verdiente das Geld für ihrer beider Lebenstinterhalt als Krankenschwester.
Cindy war spindeldürr, hatte ein längliches Pferdegesicht und trug stets viel zu weite Kittel, die um ihre hagere Gestalt schlotterten. Ihr stahlgraues Haar war kurz geschnitten und so kraus, dass sie es auch mit einem groben Kamm kaum bändigen konnte. Die schweren Zeiten, denen sie ausgesetzt gewesen war, hatten tiefe Furchen in ihr Gesicht gegraben, doch die Krähenfüße unter ihren Augen verrieten, dass sie alles, was ihr im Leben widerfuhr, mit Humor trug. Ihr unerschütterlicher Optimismus und ihre Lebensfreude übertrugen sich auch auf Barri, und im Laufe der Wochen erschienen ihr ihre eigenen Probleme nicht mehr ganz so erdrückend.
Eines Tages, als gerade wenig Betrieb herrschte, lehnte Cindy am Empfangstisch und trank eine Tasse Kaffee. Barri hatte sich einen Tee aufgebrüht. Cindy trug einen dunkelvioletten Kittel und ein Paar unglaublich abgewetzte Turnschuhe. Vorsichtig blies sie auf das kochend heiße, tiefschwarze Getränk.
Dr. Nathan Bartleby eilte, die Nase tief in einer Krankenakte
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