Die Rollbahn
Scheinwerfer, die Strakuweit nicht ausgeschaltet hatte.
»Haben Sie eine ganze Armee mit, Herr Major?« fragte Faber lächelnd.
»Ich habe sie gesammelt. Früher war ich Spezialist in Briefmarken … deutsche Länder und Kolonien … heute sammle ich Menschen. So ändern sich die Zeiten, Faber.« Er drückte ihm wieder die Hand. »Ich bin glücklich, daß Sie leben und ich Sie gefunden habe. – Haben Sie etwas von den anderen gehört oder gesehen?«
»Nichts, Herr Major. Die 6. Kompanie soll überrollt worden sein … die 7. Kompanie ist verschwunden, wir haben keinerlei Verbindung mehr gehabt.«
»Und Ihr Troß?«
»Total vernichtet durch Artillerie und Bomben.«
Major Schneider hob die Schultern. »Da nutzte dem Kunze die ganze Feigheit nichts.«
Oberleutnant Faber sah zu Boden. Auch Leskau schwieg. Major Schneider sah die beiden verwundert und mißtrauisch an.
»Ist etwas mit Kunze?«
Faber sah noch immer auf den zerfahrenen Waldboden. »Er lag nicht bei den Toten des Trosses.«
»Getürmt?«
»Ich weiß es nicht. Auch Tamara fehlte.«
»Wer ist Tamara?«
»Die Dolmetscherin, die sich Kunze hielt.«
»So kann man es auch nennen! Schöner Sauladen, Ihr Troß, Faber!«
»Ich mußte mich um die HKL kümmern, Herr Major.«
»Und Sie haben keine Ahnung, wo dieses Schwein jetzt herumläuft?«
»Nein.« Zum erstenmal sprach Leskau. »Wir wüßten es gern. Er hat die ganze Verpflegung mitgenommen.«
Major Schneider steckte die Pistole in sein Koppel. Sein Gesicht war verschlossen. »Wir werden ein Standgericht zusammenstellen, wenn er wieder auftaucht. Ich verspreche es Ihnen, Faber. Auch wenn es bei diesem Zusammenbruch sinnlos ist … wir können militärisch zusammenbrechen, aber nicht moralisch! Es gibt noch eine Ehre … auch bei dem Verlierer! – Gehen wir.«
Er trat an den russischen Raupenwagen heran und untersuchte ihn. Bleich, beschämt stand Leutnant Vogel abseits und nickte nur, als Faber ihn begrüßte und auf die Schulter klopfte.
»Jetzt haben wir wieder Zeit, Herr Kamerad«, sagte er. »Wie wär's mit einer neuen Schulungsstunde: Die Strategie des geordneten Rückzuges?«
Ohne Antwort wandte sich Vogel ab und trat in die Dunkelheit des Waldes zurück. Er war dem Weinen nahe. Saubande, dachte er. Dreckige Frontschweine! Gefühllose Hunde! Wenn wir jemals wieder zu einer geordneten Truppe kommen, sollt ihr einen anderen Vogel kennenlernen.
Major Schneider trat von dem russischen Wagen zurück.
»Alle gehen wir nicht drauf. Wir werden die Kranken und Schwachen aufsitzen lassen … wir anderen gehen weiter zu Fuß!«
»Jawoll, Herr Major.« Es war selbstverständlich und bedurfte keiner Worte, daß der ›schneidige Willi‹ das Kommando übernahm.
»Strakuweit fährt weiter. Auch der Gefreite Krahn. Das MG übernimmt Obergefreiter Blei von der 3. Kompanie. Er ist fußkrank, Leskau, er hat sich die beiden Hacken durchgelaufen, wir mußten ihn streckenweise tragen. Aber Sie sind ja noch gut zu Fuß?«
»Jawoll, Herr Major«, sagte Leskau selbstverständlich.
»Na also!« Er klopfte Faber auf den Rücken. »Mit solchen Männern erreichen wir den Dnjepr! Und hinter dem Dnjepr wird die Lage wieder stabil! Auf, Jungs – jede verpaßte Minute kann uns der Ewigkeit näher bringen. Aber wir wollen ja leben!«
Rasselnd, diesmal langsam, da die zu Fuß Gehenden nachkommen mußten, rollte der schwere Raupenwagen durch die Nacht. Sie zogen dem zuckenden Flammenschein entgegen, der über dem Horizont stand. Sie zogen dem Grollen entgegen, das immer deutlicher die Nacht erfüllte.
Orscha … der Fluß … die Rollbahn …
Nicht mehr allein die Lebensader Rußlands, sondern jetzt auch der Dorn im Fleisch der deutschen Armeen.
Eine zwölf Meter breite Straße, an der zwei Völker verbluteten …
Wenige Kilometer südlich des eroberten Wagens mit der stummen Gruppe Schneider wanderte Hauptfeldwebel Kunze mit zwei Mann und seiner Tamara durch den Wald.
Sie vermieden alle Wege und schlugen sich quer durch Gestrüpp und Unterholz durch die von Menschen unberührte Einsamkeit. Kunze hatte längst seinen Verpflegungssack abgegeben und einem der Männer aufgebürdet. »Wer fressen will, muß auch schleppen«, sagte er und schritt frei neben Tamara her.
Er war auch nicht gewillt, seinen ›Haufen‹ zu vergrößern. Erstens nahm die Gefahr der Entdeckung zu, wenn zuviel Menschen durch den Wald latschten (Kunzes Spezialausdruck), zweitens belastete es zu sehr seinen Verpflegungssack und drittens
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