Die Rose von Windsor: Historischer Roman (German Edition)
»Wenn auch nur ein Funken von Mitleid in Eurer Seele wohnt, dann trennt mich nicht von meinem Sohn. Lasst ihn mir!« Unter ihren Fingern spürte sie die gestickten Goldknoten auf seiner Tunika, den weichen Saum seines wollenen Umhangs und die Härte seiner Beine. Hände packten sie und versuchten sie von Henry wegzuzerren, doch sie klammerte sich an ihm fest und presste den Kopf gegen seine Waden. Sie würden sie schon von ihm losschneiden müssen.
»Lasst sie los«, gebot Henry mit erhobener Hand. »Und geht. Alle.«
Die Hände gaben sie frei, obwohl der Druckschmerz blieb. Die Männer zogen sich zurück, dann trat Stille ein.
»Kümmert Euch um Eure Lady, Mylord Bigod«, sagte Henry, als Roger mit einer Handvoll versiegelter Dokumente aus der Kammer kam und angesichts des Anblicks, der sich ihm bot, verwirrt die Stirn runzelte.
Die Papiere raschelten, als er sie einem anderen Mann übergab, dann beugte er sich über sie und fasste sie behutsam bei den Schultern.
»Nein«, stöhnte sie gequält.
»Ida …« Roger legte seine Lippen dicht an ihr Ohr.
»Ida, steh auf. Es bringt nichts, wenn du auf dem kalten Boden liegen bleibst. Komm …«
Widerstrebend ließ sich Ida von Roger auf die Beine helfen.
»Bitte«, flehte sie Henry mit brüchiger Stimme an.
»Bitte tut mir das nicht an. Lasst mir meinen Sohn!« Sie versuchte, ihn dazu zu bringen, ihr in die Augen zu sehen. Zuerst wandte er den Blick ab, und als er sie endlich ansah, funkelten seine Augen hart wie Kieselsteine.
»Meine Entscheidung steht fest, Ida«, sagte er. »William bleibt bei mir und wird in meinem Haushalt aufwachsen, so wie es dem Sohn eines Königs gebührt.«
»Und wie oft wird er Euch zu Gesicht bekommen? Wie oft werdet Ihr ihn besuchen? Ein Mal im Jahr? Zwei Mal?« Sie entblößte wutentbrannt die Zähne. »Wen wird er Mutter nennen?«
Henrys Nasenflügel bebten.
»Es ziemt sich nicht, einem König eine solche Szene zu machen«, beschied er sie knapp. »Du hast meine Antwort gehört, und sie ist zum Besten aller Beteiligten, auch wenn du das im Moment nicht begreifen willst.« Er wandte den Blick so abrupt von ihr ab, als durchtrenne er ein Band zwischen ihnen, und richtete ihn auf Roger. »Mylord Bigod, ich übergebe Mistress de Tosney Eurer Obhut.« Mit diesen Worten stapfte er davon. Der Schreiber, der das Bündel Dokumente in den Händen hielt, murmelte eine Entschuldigung, legte die Papiere auf eine Bank im Gang und verschwand.
Ida schloss die Augen. Sie fühlte sich hohl und unendlich elend. Roger führte sie zu der Bank und drückte sie sanft auf das harte Eichenholz nieder. Abgrundtiefe Verzweiflung legte sich wie ein erstickender schwarzer Umhang über sie und trennte sie von allem außer dem sengenden Schmerz, der in ihr tobte.
Der Gang war zu dieser frühen herbstlichen Morgenstunde noch dunkel, es zog, und aufgrund des feuchten Wetters roch es modrig. Nicht nur das Jahr neigte sich dem Ende zu.
»Ich musste es tun«, krächzte sie. »Es war meine letzte Hoffnung. Er… er hat gestern Abend nach der Komplet seinen Kaplan zu mir geschickt, als handelte es sich um eine völlig unbedeutende Angelegenheit, etwas ganz Alltägliches. Ich … ah!« Sie wiegte sich vor und zurück, wiegte ihren Kummer wie einst ihr Baby.
Roger drückte sie an sich.
»Ich dachte, er würde es dir selbst sagen. Hätte ich Bescheid gewusst, wäre ich zu dir gekommen.«
»Du wusstest es?« Ihre Stimme zitterte angesichts dieses neuerlichen Verrats.
»Er hat gestern Abend mit mir darüber gesprochen und gesagt, er würde zu dir gehen. Mir war nicht klar, dass er weder den Anstand noch den Mut besaß, dir die Nachricht persönlich zu überbringen.«
Ida erschauerte. Roger schlang den Umhang um sie beide. Sie waren alleine in einem leeren Gang, in einer Umarmung gefangen, die auf jeden Vorübergehenden wie ein Austausch von Zärtlichkeiten wirken musste. In Wirklichkeit war es ein Trauerritual.
Roger strich Ida über den Rücken. Nach einer langen Pause sagte er ruhig:
»Henry mag viele Fehler haben, aber ihm liegt wirklich etwas an William.«
»Warum lässt er ihn mir dann nicht?«, flüsterte sie gequält. »Dann würde er uns beiden Gerechtigkeit widerfahren lassen.«
»Dir vertraut er, aber er traut anderen Männern nicht. Er würde keinen Mann, den du heiratest, als würdigen Ersatzvater für seinen Sohn betrachten.«
»Aber du hättest dich um ihn gekümmert, ihn lieb gewonnen … ich wollte …«
»Ja, ich weiß. Beruhige dich,
Weitere Kostenlose Bücher