Die rote Agenda
Chiaramonte am nächsten Abend ein Fest
veranstalten würde, von dem es in den Klatschspalten aller Zeitungen hieß, man
dürfe es nicht versäumen.
Betta hätte
die Ruhe von Saturnia vorgezogen, doch sie hatte ihrer Freundin versprochen,
ein paar Tage mit ihr zu verbringen, und mochte sich jetzt nicht zurückziehen.
Tags zuvor hatte sie viele Male versucht, ihren Mann zu erreichen; immer ohne
Erfolg. Schließlich hatte sie eine gekränkte Nachricht hinterlassen, in der sie
ihm allerdings nichts über die Programmänderung mitteilte. Dann hatte sie das
Handy ausgemacht und auch nicht wieder eingeschaltet. Lorenzo übertrieb es
wirklich; sollte er doch glauben, sie sei in Saturnia. Ihm diese kleine Lektion
zu erteilen würde sie, wenn auch zu einem sehr geringen Teil, für sein
Versteckspiel entschädigen.
[298] Elvira
setzte sich ans Steuer des Kleinwagens, denn sie kannte die Gegend, da sie oft
bei Leonella in ihrer hoch über dem Ionischen Meer liegenden Villa zu Gast war.
Als sie
Catania hinter sich gelassen hatten, fuhren sie die Küstenstraße entlang. Vor
dem kleinen alten Hafen Aci Trezza, Schauplatz von Vergas Die Malavoglia, sah Betta die berühmten drei Lavafelsen
aus dem Meer ragen, die – so die Sage – Polyphem auf Odysseus schleuderte, als
dieser floh, nachdem er ihn geblendet hatte.
Die Küste
bot eine pittoreske Folge kleiner Buchten am türkisfarbenen Meer und an die
Felsen geschmiegter Fischerorte. Der flache Kegel des Ätnas zeichnete sich
gegen den blauen Himmel ab, seit ein paar Tagen spuckte der Vulkan wieder
Feuer, und seine bedrohliche Rauchsäule kontrastierte mit der sonnigen
Atmosphäre der Küste, wie um daran zu erinnern, dass Sizilien nicht nur das
Paradies, sondern auch die Hölle war.
Umgeben von
so viel Schönheit, fühlte Betta sich glücklich und war geneigt, ihrem Mann zu
verzeihen. Sie nahm das Handy, schaltete es ein und sah, dass er drei
Nachrichten hinterlassen hatte. Sie wollte ihn schon anrufen, doch dann
entschied sie sich dagegen. Im Grunde, sagte sie sich, würde es ihm guttun,
sich auch ein bisschen um sie zu sorgen und nicht immer nur um seine Geschäfte.
Also schaltete sie das Handy wieder aus und steckte es zurück in ihre Tasche.
In
Acireale, einem Städtchen, das auf einer Lavaterrasse steil über dem Meer liegt
und von Weinbergen und Zitronenhainen umgeben ist, beschlossen sie,
haltzumachen und eine Kleinigkeit zu essen. Es roch so intensiv nach
Zitrusblüten und Meer, dass sie sich wie betäubt fühlten.
[299] Auf der
Piazza del Duomo mit ihren eleganten Cafés, Restaurants und Eisdielen im Freien
entschieden sie sich für ein Lokal im Schatten, von dem aus sie die schönsten
Bauten Acireales bewundern konnten: die barocke Kathedrale Maria Santissima
Annunziata, das imposante Rathaus mit den schmiedeeisernen, auf verzierten
Konsolen ruhenden Balkonen sowie die strahlend weiße Basilica dei Santi
Apostoli Pietro e Paolo.
»Was hältst
du von diesem Empfang von Leonella? Im Grunde gibt es ja keinen feierlichen
Anlass dazu«, meinte Elvira beim Kaffee.
Betta hatte
Leonella Chiaramonte ein einziges Mal gesehen, doch sie kannte Elvira und ihre
Vorliebe für Klatsch und Tratsch und wusste, dass sie, wenn sie ihre Freundin
nicht verärgern und den Urlaub verderben wollte, dabei mitmachen musste.
Sie zuckte
die Achseln. »Keine Ahnung. Ich habe Leonella erst einmal getroffen, bei dir zu
Hause. Was hältst du denn von ihr?«
Elvira
lächelte süffisant. »Wir kennen uns seit der Grundschule. Sie war damals
langweilig und ist es noch heute. Doch man muss zugeben, dass ihre Feste
phantastisch sind. Bei all dem Geld, das sie hat, kann sie sich das allerdings
erlauben.«
Typisch
Elvira. Dabei stammte sie aus einer der bedeutendsten und vermögendsten
Familien Turins. Doch sie musste immer so tun, als sei sie zwar wohlhabend,
aber nicht reich, wie um zu beweisen, dass ihre soziale Position in ihrem
Erfolg als Künstlerin und nicht in ihrer Herkunft begründet liege. In
Wirklichkeit war sie eine mittelmäßige Malerin, auch wenn ihre Ausstellungen,
zumindest am Tag der [300] Eröffnung, immer gedrängt voll und die Verkäufe gut
waren, weil ihre zahlreichen Freunde sich verpflichtet fühlten, bei jeder
Vernissage Bilder von ihr zu erwerben.
Seit sie
Lorenzo geheiratet hatte, der seinen Zugang zu dieser exklusiven Welt ausschließlich
eigener Leistung verdankte, ertrug Betta Menschen wie Elvira nicht mehr – und
damit vielleicht auch sich selbst nicht.
Sie
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