Die Rueckkehr der Phaetonen
»Spiegel«, vor denen es keine Glasscheiben gab, waren auf die Wände des Pavillons gerichtet. Direkt gegenüber der »Tür« gab es ein riesiges Steuerpult, an dem zahllose Kontrollen in allen möglichen Farben leuchteten. Mehrere Bildschirme von unterschiedlichen Größen und Farben, eine Unmenge elektronischer Diagrammtafeln hinter Glasabdeckungen und rotierender runder Scheiben, über die sich schnell farbige Zeiger bewegten, füllten dieses Pult restlos aus. Vor dem Pult saß Io in einem tiefen weichen Sessel und sah aufmerksam auf einen großen Bildschirm, auf dem das Innere des Pavillons, das Bett und Dmitrij Wolgin, der darauf lag, gut zu sehen waren.
Als Lucius hereinkam, drehte sich Io um. »Was ist?«, fragte er.
»Sie haben doch alles gesehen und gehört«, erwiderte Lucius. »Dmitrij hat mir ohne geringste Anzeichen von Verzweiflung oder sogar starker Aufregung zugehört.«
»Sie denken, dass ...«
»Ich weiß nicht, was ich denken soll. Wir können keineswegs annehmen, dass er nicht versteht, was mit ihm passiert.«
»Sehen Sie mal!«, sagte Io und drehte sich wieder zum Bildschirm um. Das Licht im Pavillon erlosch und wurde durch Halbdunkel abgelöst. »Er will alleine bleiben und sich konzentrieren«, sagte Io. »Das Licht stört ihn. Haben Sie ihm gesagt, dass die Beleuchtungsstärke von ihm selbst abhängt?«
»Nein, ich glaube nicht.«
»Dann hat er es wohl selbst herausgefunden, oder es ist nur Zufall.«
»Ich denke, dass die Ruhe, die Dmitrij gezeigt hat, nicht natürlich ist«, fing Lucius noch einmal an. »Kann es sein, dass etwas anderes als seine außerordentliche Selbstbeherrschung dahinter steckt? Könnte es sein, dass Dmitrijs Verstand, seine Psychologie aufgrund des Versuchs, dem sein Körper unterzogen wurde, sich unumkehrbar verändert hat?«
»Nein«, sagte Io, »das konnte auf keinen Fall geschehen und das wissen Sie genau so gut wie ich. Dmitrijs psychische und geistige Fähigkeiten sind genau dieselben, wie sie vor seinem Tod waren. Es kann sein, dass die Zeit, in der er lebte und die Prüfungen, die er durchstehen musste, ihn so gehärtet haben, dass er seine Selbstbeherrschung nicht einmal jetzt verliert.«
»Ich würde wirklich gerne glauben, dass es so ist«, sagte Lucius.
Io berührte die Bildschirmoberfläche und das Bild darauf wurde vergrößert. Nun nahm Wolgins Gesicht den gesamten Bildschirm ein. »Sehen Sie!«, sagte Io. »Er ist vollkommen ruhig.«
Lucius ging schnell zum Pult und schaltete den Bildschirm ab. »Dmitrij hat gebeten, ihn für drei Stunden nicht zu beobachten«, sagte er, als er los verständnislosen Blick sah. »Er würde gerne ganz allein sein.«
Beide sahen den erloschenen Bildschirm eine Zeitlang an. Im gewaltigen Gebäude herrschte vollkommene Stille, die nur vom kaum hörbaren Rauschen in einem der Geräte gestört wurde. Lucius sah sich dieses Gerät an und streckte seine Hand danach aus. »Sein Herz schlägt auch vollkommen ruhig«, sagte er. »Aber wenn Dmitrij gebeten hat, ihn nicht zu beobachten, dann dürfen wir auch seinen Herzschlag nicht sehen.«
Das Band des Gerätes, das hinter einer dünnen Glasscheibe lief, blieb ebenfalls stehen. Zum ersten Mal seit zehn Jahren ließen die Wissenschaftler, die einen anderen Menschen wieder zum Leben erweckt haben, diesen aus ihrem Blickfeld.
Was tat dieser Mensch während seiner Einsamkeit? Welche Gedanken und Gefühle beherrschten ihn - jemanden, der aus der kalten Umarmung des Todes wieder zum Leben zurückgekehrt war?
Inzwischen war eine Stunde vergangen. Io saß genauso wie vorher in einem Sessel und richtete einen unbeweglichen Blick auf den erloschenen Bildschirm. Lucius stand immer noch neben ihm. Die beiden konnten sich über nichts unterhalten - es war auch nicht möglich, das, was sie fühlten, in Worte zu fassen.
Die titanische Aufgabe, die sie auf sich genommen hatten, war erfüllt. Die Wissenschaft des neunten Jahrhunderts Neuer Ära hatte das verwirklicht, was vorher wie ein Traum erschienen war, sie hatte einen Sieg über die Natur auf ihrem am wenigsten zugänglichen und am meisten rätselhaften Gebiet errungen. Von nun an würde sich der Tod gehorsam dem Menschen fügen. Er hatte sich aus einem unbegreiflichen und grausamen Feind in einen Freund verwandelt, der den Menschen dann von seinem Leben befreite, wenn die natürliche Altersgrenze dieses Leben unnötig und lästig machte. Die unbewusste Anziehungskraft der Unsterblichkeit beherrschte immer noch die Gemüter der
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