Die Rückkehr des Fremden (German Edition)
Überlebensinstinkt heraus hatte er alles tief in sich verschlossen. Als Kathryn Sadies Wange streichelte, sah sie nicht ihr, sondern Larsons Gesicht. Oh, mein Liebling. Wenn ich das nur verstanden hätte. Ich hätte deine Narben noch mehr geliebt.
Mit dem Beschützerinstinkt einer Mutterbärin, die ihr Junges bewacht, hakte sich Kathryn bei Annabelle unter, während sie zum Kolonialwarenladen marschierten. Zu ihrer Beschämung war sie insgeheim froh, dass der Gehweg zu dieser frühen Morgenstunde fast leer war. Sie war noch nie zuvor mit Annabelle in der Öffentlichkeit gewesen, aber ihr war klar, dass andere Annabelles Beruf sehr leicht erraten konnten, und Kathryn fragte sich, wie sie sie behandeln würden.
Sie warf einen vorsichtigen Blick zur Seite und staunte, wie stark sich ihre Meinung über Annabelle geändert hatte. Die Morgensonne glänzte auf der leuchtend roten Farbe ihrer Haare, die einen starken Kontrast zu ihrer blassen Haut bildeten.
In der letzten Woche war die Schwellung in Annabelles Gesicht zurückgegangen und die Blutergüsse waren mit Puder fast völlig überdeckt. Auch Sadie hatte sich körperlich gut erholt, aber sie hatte noch mit niemandem über den Vorfall gesprochen. Betsy hatte Annabelle zwei Tage freigegeben, um sich zu erholen, sie dann aber schnell wieder an die Arbeit geschickt. Kathryn hatte diese Tage als Gelegenheit von Gott gesehen und sie genutzt, um Samen der Freundschaft und des Glaubens zu säen.
Annabelle hatte sie nach Feierabend in der Herrenschneiderei besucht. Sie war durch die Hintertür gekommen, wenn der Laden geschlossen hatte, und Kathryn hatte ihr vorgelesen. Zuerst aus einem Buch, das Annabelle ausgesucht hatte, dann aus ihrer Bibel. Kathryn hatte absichtlich die Geschichte von Rahab ausgesucht und sich insgeheim über Annabelles interessierte Aufmerksamkeit gefreut.
Als sie jetzt in eine Gasse bogen, schaute Annabelle zu ihr hinüber und lächelte. „Du hättest heute Morgen nicht mitkommen müssen, wirklich! Ich bin es gewohnt, das allein zu erledigen.“
„Ich weiß, aber ich wollte mitkommen.“ Kathryn verriet Annabelle nichts von ihren früheren Bedenken oder dass sie dankbar war, auf andere Gedanken gebracht zu werden. Ihr war alles recht, um nicht ständig an die verschiedenen Möglichkeiten denken zu müssen, die ihr keine Ruhe ließen und die jeden Tag mit stärkerer Wucht auf sie einstürmten. Heute Morgen war sie lange vor Tagesanbruch aufgewacht und hatte nicht mehr einschlafen können. Matthew Taylor hatte bestimmt nicht recht. Larson konnte sich in diesem Sturm nicht verirrt haben. Aber etwas musste passiert sein … denn fast fünf Monate waren nun schon vergangen, seit er fort war.
Annabelles Schnauben riss Kathryn aus ihren Gedanken.
„Du überlegst es dir vielleicht anders, wenn wir dort sind.“ Sie deutete auf den leeren Gehweg. „Jetzt sind noch nicht viele Leute unterwegs, aber später wird das anders sein …“
„Annabelle, ich bin gern bei dir. Okay?“
Annabelle nickte, aber aus ihren Augen sprachen starke Zweifel.
Als sie Annabelles eigensinnig vorgeschobenes Kinn sah, lächelte Kathryn in sich hinein und fühlte sich irgendwie geehrt, dass sie einen Blick auf die verwundbare, zarte, und nach außen hin doch bemerkenswert widerspenstige Frau hatte werfen dürfen.
Die Hintertür des Ladens war verschlossen. Annabelle klopfte zweimal.
Kathryn erinnerte sich an den Abend, an dem sie mit Gabe hier gewesen war. Sie hatte Gabe seitdem nicht mehr gesehen und fragte sich, wo er wohl steckte. Sie wollte ihm danken, dass sie durch ihn Annabelle kennengelernt hatte. Bei dem Gedanken daran, wie entsetzt sie gewesen war, als sie die wahre Natur ihrer „Pension“ herausgefunden hatte, musste sie immer noch lächeln.
Die Hintertür ging auf, und eine grauhaarige Frau winkte sie unfreundlich hinein. „Sie kommen zu spät! Beeilen Sie sich. Schnell jetzt.“ Sie warf einen vorsichtigen Blick in die Gasse, bevor sie die Tür zuknallte. „Wir werden in ein paar Minuten für unsere normalen Kunden öffnen, und ich will, dass Sie beide bis dahin wieder fort sind.“
Die Wärme in Annabelles Augen verwandelte sich in Eis. „Ihnen auch einen guten Morgen, Mrs Hochstetler.“
Mrs Hochstetler? Kathryn betrachtete die Frau mit dem roten Gesicht und den schmalen Lippen, die vor ihr stand. Wie konnte sie die Frau des freundlichen Herrn sein, der ihr geholfen hatte, ihre Sachen zu verkaufen?
„Wie geht es Ihnen an diesem schönen Tag,
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