Die Runen der Macht - Göttliche Rache (German Edition)
aus ihr und ihrem Bruder. Sie beide mussten heiraten und Erben produzieren – sofort. Im selben Moment lösten sich Hatipai, der seltsame Raum und ihre Aufgabe in Luft auf. Ihr Bruder hatte hinter seinem allgegenwärtigen Lächeln etwas verborgen. War sie so damit beschäftigt gewesen, ihn zu beschützen, dass sie nichts anderes bemerkt hatte? Es war ein schrecklich verletzender Gedanke, der sie erstarren ließ.
Zofiya kehrte ruckartig zu ihren gegenwärtigen Sorgen zurück, weil der Raum sich wieder bewegte. Die Augen aus blauem Glas sandten nun schmale Lichtstrahlen aus, die über ihr zuckten. Die harsch flüsternden Stimmen erstarben und wurden durch etwas ebenso Unheilverkündendes ersetzt.
Das Geräusch von Metall, das über Metall kreischte, hallte mit solcher Wucht durch den Raum, dass sie sich die Ohren zudrücken musste.
Endlich hörte es auf, und schwer atmend nahm die Großherzogin vorsichtig die Hände herunter.
Der Kaiser oder sein Erbe mögen eintreten.
Der letzte Fries glitt auseinander. Zofiya fragte sich, wie viele dieser alten Orte im Reich darauf warteten, entdeckt zu werden. Die Rossins mussten von ihnen gewusst haben, aber bedauerlicherweise hatten sie bei ihrem ziemlich hastigen Auszug aus Vermillion keine Anweisungen für ihre Nachfolger hinterlassen.
Die Rossins waren der Feind Hatipais und aller anderen Gottheiten, denn sie hatten der Bevölkerung erlaubt, sich von den Göttern abzuwenden, als die Anderwelt sich öffnete. Sie hatten zugelassen, dass sie an Bedeutung verloren und »die kleinen Götter« wurden.
Zofiyas Herz war von Gewissheit erfüllt. Ihr Bruder mochte Pläne für sie haben – aber sie hatte auch Pläne für ihn. Die Götter würden wieder Macht bekommen, und ihre Göttin würde über allen stehen. Sie würde den Glauben zurück nach Arkaym bringen.
Selbstbewusst trat sie in die Dunkelheit und auf eine glänzende Lichtsäule zu. Im selben Moment wurde sie von dem Gerät über der Tür angegriffen. Der lange Gelenkarm schlug ihr mit einer Nadel von der Dicke eines Spitzenklöppels auf die Schulter. Die Großherzogin konnte kaum reagieren, da wurde die Nadel schon zurückgezogen. Sie starrte das klickende und sirrende Gerät an. Nichts geschah, und sie ging weiter in den Raum und seltsamerweise ins Sonnenlicht hinein. Ein Blick nach oben sagte ihr, dass die Handwerker der Alten eine Linse geschaffen hatten, die Licht von einem fernen Punkt heranleitete.
»Die Göttin sei gepriesen«, murmelte Zofiya leise. Ihre Schritte hallten auf dem Boden, und ihr Atem ging in kurzen, flachen Stößen. Oben auf dem Podest befand sich ein weiteres Gerät, das sie nicht benennen konnte, gewiss aber für Hatipai holen sollte.
Es sah aus wie eine Kugel aus grauem Metall. Die Großherzogin mochte gläubig sein, aber dumm war sie nicht – sie griff nicht sofort danach. Stattdessen betrachtete sie die Kugel mit schräg gelegtem Kopf und schmalen Augen. Sie war so groß wie die Bälle, mit denen im ganzen Reich die Kinder spielten, und trug an den Polen zwei flache Kappen aus grauem Metall. Dazwischen schien der Ball aus einer Art Glas zu bestehen.
Zofiyas Finger schwebten dicht über der Kugel. Das Glas war so fein und klar wie das im Palast von Vermillion, und sie sah, dass die Kugel eine Flüssigkeit enthielt, die im von oben einfallenden Licht silbern glänzte. Zofiya ging um das Podest herum und stellte fest, dass die Kappen nicht bloß flach waren: Auch sie waren verziert und enthielten kleine Räder und Zahnräder. Es waren winzige Beispiele der Kunst der Mechaniki – die Art von Arbeit, die man nur bei Uhren für den Adel oder für den Kaiserhof sah.
Solche Dinge waren Erfindungen aus jüngster Zeit, und doch war dieser Ort fraglos sehr alt. Ihr Glaube hinderte Zofiya auch nicht daran, neugierig zu sein. Die Alten und ihre Künste waren nach dem Bruch untergegangen – dies musste ein Beispiel ihres Handwerks sein. Doch warum ihre Göttin etwas von ihnen brauchen mochte, konnte sie nicht verstehen.
Vielleicht stand es ihr nicht zu, etwas zu begreifen. Hatipai hatte sie nur darum gebeten, ihr dieses Ding zu bringen. Sie wischte sich die Hände an der Hose ab, bevor sie nach der Kugel griff.
Vielleicht bildete sie es sich nur ein, aber es fühlte sich so an, als bewegte sich etwas in der Kugel. Sie hielt wie erstarrt inne und wartete darauf, dass etwas Schreckliches geschah. Die Kugel konnte in ihren Händen explodieren wie ein zum falschen Zeitpunkt eingesetzter Wehrstein,
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