Die Samenhändlerin (German Edition)
einem Wirtshaus zu übernachten. Den Betrag, den er sich vom Vater genommen hatte, würde er für wichtigere Dinge benötigen als für ein warmes Bett. Das Gleiche galt für sein Essen: Wo immer er an Streuobstwiesen vorbeikam, stopfte er sich den Mund und die Taschen voll mit Äpfeln, Birnen und Pflaumen. Auch noch nicht ganz reife Walnüsse vertrieben das Magenknurren. Nur einmal war er schwach geworden: Der Duft nach frisch gebackenen Hefeteilchen, der aus einer Bäckerei strömte, hatte ihn seine Sparsamkeit vergessen lassen.
So schnell wie möglich so viele Meilen wie möglich zwischen sich und Gönningen bringen! Alles andere war Nebensache. Weg, nur weg.
Nun hatte er sein erstes Ziel, den Tulpenhof, erreicht.
»Der Württemberger – was für eine Überraschung! Und was verschafft uns schon so bald wieder die Ehre?«, wollte Piet wissen, nachdem sie ihn gut zwei Meilen vom Hof entfernt auf einem weitläufigen Feld gefunden hatten. Neben ihm, eingespannt in einen Pflug, stand eines der größten Pferde, die Valentin je gesehen hatte. Obwohl ein ganzer Schwarm Mücken seinen riesigen Schädel umschwirrte, blieb es stoisch stehen, und nur ein leichtes Zucken am oberen Mähnenrand verriet, dass die Insekten es störten.
»Die reizende Gattin ist dieses Mal nicht dabei? Der Bruder, die Schwägerin?« Piet war genauso ratlos wie seine Tochter, was Valentins neuerliches Erscheinen betraf.
Valentin verzog das Gesicht. Natürlich hatte er mit solchen Fragen gerechnet, doch sosehr er auch gegrübelt hatte, eine passende Antwort war ihm nicht eingefallen. Die Wahrheit? Unmöglich.
»Ich bin allein hier, meine … Familie ist daheim.« War esunhöflich, sofort mit der Tür ins Haus zu fallen? Andererseits war irgendein Geplänkel das Letzte, wonach ihm der Sinn stand. Er räusperte sich.
»Ich … ich habe eigene Pläne. Will nach Amerika, ein alter Freund hat dort vor Jahren sein neues Zuhause gefunden, ihn will ich besuchen. Mal sehen, was die Amerikaner von unseren Sämereien halten …«
Stirnrunzelnd wies Piet ihn an, neben ihm auf der Decke, die Margarita ausgebreitet hatte, Platz zu nehmen. Als wäre es das Selbstverständlichste von der Welt, dass er ihnen beim Essen Gesellschaft leistete, hielt sie ihm eine Scheibe Brot hin. Das Brot in der einen Hand, einen Krug Wein in der anderen, beeilte sich Valentin, seine Pläne genauer zu erklären.
»Ich suche eine günstige Gelegenheit, um über das Meer zu kommen. Und da dachte ich … Also, bei unserem letzten Besuch erwähnten Sie doch …«
»Ja?« Piet hielt Margarita seinen Krug hin, damit sie ihn erneut auffüllte.
Valentin schluckte. Wie war er nur auf solch eine dumme Idee gekommen! Da überfiel er einen wildfremden Menschen, nutzte seine und die Freundlichkeit seiner Tochter aus –
»Ich dachte mir, ich könnte eine Ihrer Tulpenlieferungen begleiten!«, platzte er heraus, bevor er es sich noch einmal anders überlegen konnte. »Als Aufpasser sozusagen! Damit nichts wegkommt. Mit mir legt sich so schnell keiner an, das müssen Sie mir glauben!« In einer prahlerischen Geste, für die er sich sofort schämte, ließ er seine Armmuskeln spielen.
Mit den Zähnen riss Piet ein Stück Speck von der Schwarte, seelenruhig kaute er darauf herum. Margarita sagte mit leiser Stimme etwas auf Holländisch zu ihrem Vater. Piet antwortete, lauter, heftiger, woraufhin sie ein Stück zurückwich.
Um etwas zu tun zu haben, biss Valentin von seiner Scheibe Brot ab. Die Krümel kratzten im Hals. Sag doch was , flehte ersein Gegenüber im Stillen an. Sag, dass du einverstanden bist! Oder sag, dass diesen Herbst keine Ladung mehr den Weg über den Ozean antreten wird. Oder dass du schon jemanden als Bewacher hast. Oder dass du keinen brauchst. Für all diese Fälle hatte sich Valentin gewappnet: Dann würde er nach Amsterdam weiterziehen und dort im Hafen auf einem Schiff anheuern. Als Matrose, als Küchenjunge, als Kohleschieber – egal!
»Ich werde auf alle Fälle über deinen Wunsch nachdenken«, sagte Piet nach einer langen Weile. Dann prostete er Valentin mit seinem Krug Wein zu.
»Selbstverständlich«, murmelte der mit gesenktem Blick und fühlte sich dabei wie ein Bettler.
Die ganze Situation kam ihm plötzlich aberwitzig vor: Da saßen er, Piet und Margarita bei einem Picknick auf dem sandigen Boden an der holländischen Küste, im Schatten eines riesigen Pferdes, dem Margarita einen Hafersack umgebunden hatte. Träumte er nur? Einen Traum, aus
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