Die Samenhändlerin (German Edition)
Das hatte nichts mit dem gemein, was Emma ihr von den harten und entbehrungsreichen Reisen der Samenhändler erzählt hatte. Von den lebensbedrohenden Krankheiten, die einen in der Fremde befallen konnten, von Männern, die mehr tot als lebendig nach Gönningen zurückkehrten, gescheitert, gebrochen. Zugegeben, auch Emmas Augen hatten geblitzt, als sie von ihren eigenen Reisen sprach, aber alles inallem war sie doch viel zurückhaltender in ihrer Begeisterung gewesen.
Wie wenig ich Helmut noch kenne, durchfuhr es Hannah plötzlich, wie wenig ich weiß, was in ihm vorgeht! Der Gedanke machte ihr Angst. Sie war versucht, die Feierlichkeit des Augenblicks mit einer sorglosen, albernen Bemerkung wie »Mit der Freiheit ist’s ab heute ja erst einmal aus und vorbei!« wegzuwischen. Gleichzeitig spürte sie jedoch, dass dieser Moment die Grundlage für alles sein konnte, was ihr zukünftiges Leben ausmachte. Sie fühlte sich unsicher, als würde der Boden der Plattform tatsächlich schwanken. Aus Angst, die Bedeutsamkeit dieses Moments zu zerstören, sagte sie lediglich: »Erzähl mehr.«
Helmut zuckte kurz zusammen, als habe er ihre Anwesenheit fast vergessen. Nach kurzem Schweigen fuhr er fort: »Dort draußen, in der großen weiten Welt, in Ländern wie Ungarn, Russland oder Amerika, dort denken die Menschen anders. Sie führen ein Leben, das wir uns nicht vorstellen können, von dem wir nicht einmal etwas erahnen. Die träumen nicht nur von besseren Zeiten, sie schaffen sie!«
Nun, da er sich warm geredet hatte, tanzten rote Flecken auf seinen Wangen. Er erzählte von Möglichkeiten, die man nutzen konnte, wenn man ihnen mit wachem Auge und mutigem Herzen entgegentrat.
Ungarn, Russland, Amerika – wo liegen diese Länder überhaupt?, fragte sich Hannah stumm, als sie sich kurze Zeit später auf den Heimweg machten, und kam sich sehr dumm dabei vor.
Warum hatte er ihr das alles erzählt? Was bedeutete das für sie, für ihr zukünftiges Leben? Diese Freiheit, all diese Möglichkeiten, von denen er sprach – ob die auch für sie gelten würden? Sie wollte doch nur, dass ihr Kind nicht in Schande aufwuchs, sie wollte versorgt und eine gute Ehefrau sein – an mehrhatte sie nicht gedacht, als sie sich von Nürnberg aus auf den Weg machte.
Freiheit, Chancen nutzen, nicht auf ein besseres Leben warten, sondern dieses erschaffen – mit jedem Schritt in Richtung Gönningen überfiel Hannah stärker ein Gefühl der Unwirklichkeit. Helmuts Worte waren wie ein Stein, der ins Wasser fällt und weite Kreise wirft – sie zogen immer neue, fremde, bedrohliche, aber auch verheißungsvolle Gedanken nach sich.
Bisher hatte Hannah ihr Leben einfach gelebt. Hatte getan, was die Eltern ihr aufgetragen hatten. Dies in Frage zu stellen wäre ihr nie in den Sinn gekommen. Als Ausgleich hatte sie heimlich ihren Spaß gehabt mit dem einen oder anderen Mann, ohne an die Konsequenzen zu denken. Die waren ihr erst klar geworden, als wenige Wochen nach Helmuts Besuch ihre Blutung ausblieb. Dass für sie ein anderes Leben als das einer Magd im elterlichen Gasthaus möglich war – auch so etwas hätte sie sich nicht träumen lassen.
Doch hatte sie dann nicht selbst den ersten Schritt zu einem anderen, besseren Leben getan, indem sie sich auf die Suche nach Helmut machte? Vielleicht waren sie sich gar nicht so unähnlich! Steckte womöglich schon ein Samenkorn Gönninger Unternehmerlust in ihr?
Kameradschaftlich hakte sie sich bei ihrem zukünftigen Mann unter. Eines stand fest: Langweilig würde ihr neues Leben nicht werden.
13
Die Hochzeit wurde eine feuchtfröhliche Angelegenheit. Die gesamte Festgesellschaft, mehr als hundert Gäste, traf sich gegen Abend im »Adler«, dem größten Wirtshaus vonGönningen. Kaum hatten sich die Leute an den langen Tischreihen auf ihren Plätzen eingerichtet, wurden Schüsseln mit dampfenden Kartoffelknödeln, eiergelben Spätzle, Schweinsbraten in einer tiefbraunen dicken Soße und vieles mehr aufgetragen. Bierkrüge wurden so schnell geleert, dass der Wirt und seine Helfer mit dem Zapfen kaum hinterherkamen. Wilhelmine Kerner und einige der anderen Frauen nippten vornehm an einem süßen Wein, den Hannah allerdings nach den ersten Schlucken zugunsten eines Bieres stehen ließ.
Ob es nun daran lag, dass Emma bei den Dorffrauen in den letzten Tagen keine Gelegenheit zur Fürsprache für ihren Schützling ausgelassen hatte, oder daran, dass Hannah mit ihrer Natürlichkeit und ihrem
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