Die sanfte Entfuehrung des Potsdamer Strumpftraegers
ihn eine Weile lang schweigend an, er hält meinem Blick stand.
»Wir sollten was?«
»Also«, sagt er und setzt sich mir gegenüber, »es lässt sich ja nun mal nicht mehr ändern, dass wir nicht gewonnen haben.«
Dass er mein Scheitern als Gemeinschaftsunternehmung auffasst, gefällt mir in diesem Moment. Dass irgendetwas Konstruktives in den nächsten Momenten folgen wird, glaube ich aber nicht.
»Nun ja, wir bewerben uns da beide seit Jahren«, fährt er fort, »die Chancen, dass ich ausgewählt werde oder sogar du ein zweites Mal, stehen nicht so … rosig. Und deshalb hab ich mir heute Nacht so meine Gedanken gemacht, wie wir stattdessen an die Million kommen könnten.«
»Indem wir Günther Jauch entführen, klar, liegt ja auf der Hand.«
Herr Müller ist ein Idiot.
»Jetzt sei mal nicht gleich so anti. Ich habe mir das gründlich überlegt. Katja findet die Idee auch gut.«
»Katja findet auch Synchronschwimmen gut.«
»Du bist unfair. Gib der Idee doch wenigstens eine Chance.«
»Ja, gut, ich denke drüber nach. Nach dem Essen.«
Natürlich werde ich nicht darüber nachdenken. Herrn Müllers Idee liegt auf dem Gedankenniveau eines Grundschülers. Er kann das nicht ernst meinen und wird es bald wieder vergessen.
Das versuche ich auch, das Vergessen. Morgen geht es wieder in den Laden, business as usual. Da werde ich sicher wieder auf andere Gedanken kommen. Ich freue mich schon drauf, Frau Rottenbauer in ihrem Stühlchen wiederzusehen, und ich bin gespannt, wie Etienne sich eingearbeitet hat und ob er vielleicht wirklich für eine Verjüngung unserer Zielgruppe gesorgt hat. Das alles erscheint mir aufregend genug. Eine Prominentenentführung braucht es im Moment nicht unbedingt. Wirklich, was für eine bescheuerte Idee!
Nach dem späten Frühstück rufe ich im Laden an und sage Annette, dass sie morgen wieder mit mir rechnen kann.
»Du kannst morgen wieder mit mir rechnen, Annette.«
»Das ist aber schön, Paul. Und die vollkommen richtige Einstellung. Du wirst sehen, in ein paar Tagen denkt niemand mehr an die Sache, und du kannst drüber lachen.«
»Na ja.«
»Pass auf: Etienne macht morgen den Laden auf. Es reicht vollkommen, wenn du erst um neun Uhr kommst. Dann kannst du direkt an die Kasse und hast was zu tun. Ja?«
»Klingt super, dann bis morgen um neun!«
Natürlich hat Annette die Sendung gesehen. Sie lief direkt am Montagabend, eine Stunde nach Aufzeichnungsende. Alle wissen sie Bescheid, jeder saß vor dem Fernseher. Nur ich nicht, ich saß bei der Ausstrahlung mit Katja in der Kneipe. Ich will sie auch nicht sehen. Ich finde, ich habe wirklich einen guten Grund, dass dies die einzige Wer wird Millionär -Folge überhaupt sein wird, die ich mir niemals ansehen werde.
»Was ist denn jetzt mit meiner Idee?«, fragt Herr Müller, als ich mir in der Küche ein Glas Milch einschenke.
»Ich geh mal nach den Kühen schauen«, antworte ich.
Donnerstag, 8.55
Annette hatte einen Plan. Bei ihrem Vorschlag, einfach eine Stunde später zu kommen, habe ich mir wirklich nichts gedacht. Sie muss das direkt in dem Moment ausgeheckt haben, als ich ihr gesagt habe, ich käme wieder zum Arbeiten. Dieses durchtriebene Miststück!
Der Laden liegt direkt an der ersten (und einzigen) Kurve der Hauptstraße. Die Hauptstraße knickt nach links ab, und rechts beginnt die Fußgängerzone, hin zum Allgemeinplatz. Die Fußgängerzone ist geschätzte vierzig Meter lang, aber immerhin, nicht jedes Dorf dieser Größe hat überhaupt eine. Jedenfalls heißt das, dass man den Laden schon von Weitem sieht, wenn man auf der Hauptstraße auf ihn zufährt. Und was ich heute sehe, erscheint mir nicht ganz normal:
Da stehen etwa zwanzig Leute vor den Schaufenstern, die Banner und Schilder in den Händen halten. Als irgendeiner von ihnen mein Auto erkennt, scheint er eine Art Signal zu geben, und alle recken ihre Schriftzüge in die Höhe und hüpfen, sofern sie altersmäßig noch dazu in der Lage sind. Was soll das? So aus der Ferne kann ich lediglich ein paarmal meinen Namen auf den Schildern erkennen. Ich widerstehe dem spontanen Drang, einfach Gas zu geben, und nähere mich stattdessen vorsichtig mit etwa zehn Stundenkilometern. Als ich am Straßenrand direkt vor dem Laden und den Leuten zum Stehen komme, geschieht zweierlei: Roberto Blanco beginnt zu singen – ich hoffe, nur von einem Band –, und eine La-Ola-Welle wird gestartet.
EIN BISSCHEN SPASS MUSS SEIN, DANN IST DIE WELT VOLL SONNENSCHEIN.
Ich
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