Die schlafenden Hüter - Das Marsprojekt ; 5
Sache, aber sie so direkt vor sich zu haben, eine völlig andere.
»Vielleicht sollten wir uns lieber beeilen«, meinte sie.
»Du hast recht«, nickte Mrs Faggan. Sie trat neben Ariana, ihr Blick glitt über die schimmernden Reihen der Maschinen. Das Licht, das das Mausoleum erfüllte, warf keine Schatten. »Sechste Reihe, neunundzwanzigster … Apparat.« Das war die Position des Sarkophags, in dem Henry Lang einen menschlichen Fuß entdeckt hatte. Offenbar brachte sie das Wort Sarkophag nicht über die Lippen. »Komm.«
Sie gingen die linke Rampe hinab, näherten sich den Sarkophagen. Aus der Nähe wirkten sie noch größer und wuchtiger als vom Balkon oben, gewaltige Geräte, die aussahen, als wöge jedes Tonnen. Vor dem ersten Sarkophag der sechsten Reihe hielten sie inne und betrachteten das Wesen darin: dürr und lang, mehr als drei Meter bestimmt, mit einem großen dunklen Körperteil an einem Ende, der vielleicht ein Kopf war, bloß ohne erkennbare Sinnesorgane. Zahllose Gliedmaßen, paarweise angeordnet, von denen manche groß und stark wirkten, wie Arme oder Beine, die meisten aber klein und dünn waren, manche kaum dicker als ein Barthaar, aber trotzdem unverkennbar Gliedmaßen. Und auf jeden Fall mehr als die acht Paar, die man auf Carls Fotos gezählt hatte. Aus der Nähe betrachtet schienen die entfernt an irdische Heuschrecken erinnernden Fremden auch eine gewisse Verwandtschaft zu Tausendfüßlern zu haben.
»Sie leben noch«, erklärte Mrs Faggan. »Oder? Was denkst du?« Sie legte die Hand auf die gläserne Hülle, unter der das riesige Wesen lag. »Spürst du das? Sie sind nicht tot. Sie schlafen nur.«
Ariana schluckte. Spüren? Sie spürte nichts. Beklommenheit allenfalls. Hier unten zwischen all diesen Apparaten zu stehen, das war ein Gefühl, wie es eine Ameise haben musste, die es aus den Treibhäusern in die Gemeinschaftsküche verschlagen hatte und die versuchte, sich in den Ritzen zwischen den Bodenfliesen zurechtzufinden.
»Die schlafen nur«, wiederholte Mrs Faggan. »Eingefroren oder so. Bestimmt.« Es klang wie eine Beschwörung. »Komm!«
Damit setzte sie sich in Bewegung, ging um den Sarkophag herum und begann, die Reihe der Geräte dahinter entlangzumarschieren, jedes einzelne davon mit der Hand berührend und zählend. »Eins … zwei … drei …«
Immer schneller und weiter schritt sie aus; Ariana hatte zusehends Mühe, ihr zu folgen.
»Vierundzwanzig … fünfundzwanzig …«
Und dann hörte Ariana sie auf einmal den schrecklichsten Laut ausstoßen, den sie jemals einen Menschen hatte von sich geben hören. Es war kein Schrei, eher ein Stöhnen, ein bebendes, zitterndes, beinahe nicht mehr menschliches Wehklagen, das zu hören einem das Blut in den Adern stocken ließ.
Dann war alles still. Entsetzlich still.
»Mrs Faggan?«, fragte Ariana angsterfüllt.
Keine Antwort. Da vorn stand sie, schien zu Eis erstarrt.
Ariana ging zu ihr, trat neben sie, sah, was sie sah. In dem Sarkophag vor ihr lag ein Mann, ein Mann im Overall der Marssiedler, wie man ihn unter einem Raumanzug trug. Doch sein Gesicht, seine Augenhöhlen, alles war entsetzlich eingefallen und verschrumpelt, seine Haare lagen rings um den kahlen, fleckigen, runzligen Schädel und seine Hände waren nur noch dürre Krallen.
Was sie sahen, war nur noch eine Mumie.
Am Sonntagabend wurde wie jede Woche das Fest auf der Plaza vorbereitet. Tische wurden aufgestellt, Stühle herangetragen, das Büffet wurde mit dampfenden, köstlich riechenden Töpfen und Platten aus der Gemeinschaftsküche bestückt und die Musikgruppe für diesen Abend fand sich zusammen: zwei Gitarristen und zwei Keyboarder heute, die aus dem Stimmen der Instrumente direkt in langsame, eher verträumte Improvisationen im Neo-Raga-Stil übergingen.
Einigen der Festbesucher fiel auf, dass Pigrato und seine Frau fehlten, die sich in letzter Zeit eigentlich oft zu diesem Anlass hatten sehen lassen. Fast allen fiel auf, dass die Kinder fehlten, die eigentlich immer kamen – insbesondere Ronny ließ sich die Leckereien, die es nur bei dieser Gelegenheit gab, nie entgehen.
Doch niemand dachte sich etwas dabei. Es würde schon seinen Grund haben. Es gab genug zu diskutieren, zu klatschen und zu lachen.
Das Fest war in vollem Gang, als plötzlich irgendetwas anders wurde, ohne dass jemand hätte sagen können, was genau. Aber ein paar Gespräche verstummten, Leute sahen auf, wechselten unruhige Blicke. Irgendetwas war nicht so, wie es hätte sein
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