Die Schwestern von Sherwood: Roman
Tennyson konnten nichts daran ändern, dass sie sich in England so gut wie seit Langem nicht mehr fühlte.
Melinda zog ihren Schal enger um die Schultern und merkte, dass ihr kühl wurde. Das Wetter war nicht dazu angetan, lange im Sitzen zu verweilen. Sie beschloss, weiterzulaufen und ihre Erkundungen noch etwas auszudehnen.
Ein Stück hinter Whistman’s Wood kam sie an einem kleinen verfallenen Cottage vorbei, das versteckt an einem Hügel lag. Die Reste einer alten Holzbank standen vor dem Häuschen. Dunkel meinte sie sich zu erinnern, dass sie ein ähnliches Haus auch auf einem der Bilder gesehen hatte. Ob jemand in dieser Einsamkeit einmal gewohnt hatte? Oder war es nur ein Unterschlupf gewesen?
Die Nebelschwaden vom Vormittag hatten sich aufgelöst, und man konnte wieder klar in die Ferne schauen. Von einem Hügel, den sie hochstieg, konnte Melinda die Umrisse von Sherwood-Manor ausmachen. Sie entsann sich, wie sie vor dem Tor gestanden und die Ahnung verspürt hatte, dass die alten Mauern ein Geheimnis bargen. Wie die Drohung von Henry Tennyson zeigte, schien sie damit recht zu haben. Warum sonst versuchte er, sie davon abzubringen, Fragen zu stellen?
Sie musste auch wieder daran denken, wie sie sich am Wochenende zuvor beinahe im Nebel verirrt hatte und George Clifford ihr zu Hilfe gekommen war. Noch immer verspürte sie eine leise Enttäuschung, dass er sie nicht um eine Verabredung gebeten hatte.
Obwohl sie nach einer Weile jeden Muskel in ihrem Körper zu fühlen glaubte, merkte Melinda, dass die Wandertour ihr Kraft und neuen Tatendrang schenkte.
Mrs Benson lächelte, als sie bei ihrer Rückkehr zur Tür hereintrat.
»Die frische Luft scheint Ihnen gutzutun!«
»Ja, es war wunderbar. Vielen Dank für die köstlichen Sandwiches«, gab Melinda zur Antwort.
»Gern. Sie hatten übrigens zwei Anrufe. Einmal hat eine Mrs Finkenstein aus London angerufen …«
Melinda unterbrach sie überrascht. »Hat sie eine Nachricht hinterlassen?«
Die Wirtin schüttelte den Kopf. »Nein, sie sagte, sie wird sich noch einmal melden.«
»Danke …« Vielleicht hatte Mrs Finkenstein etwas über den Namen ihrer Großmutter herausgefunden! Geistesabwesend wandte Melinda sich ab. Auf dem Weg zu ihrem Zimmer fiel ihr ein, dass sie Mrs Benson vergessen hatte zu fragen, wer der zweite Anrufer gewesen war. Sie öffnete die Tür und blieb im selben Moment wie erstarrt stehen. Jemand war hier gewesen! Diesmal bestand kein Zweifel, denn ihre Sachen lagen verteilt im ganzen Raum herum, auf dem Bett und dem Boden. Auch die Zeichnungen und Briefe – als hätte jemand etwas gesucht …
AMALIA
66
A malia befand sich auf dem Weg zu dem kleinen Cottage. Es lag nicht weit entfernt von Whistman’s Wood, in Richtung der Felsen von Beardown Tors. Früher hatte es Schäfern und Reisenden Zuflucht gewährt, doch nun stand es leer. Er hatte es ihr bei ihrem letzten Treffen gezeigt. Nachdem er ihr das Päckchen überreicht hatte. Amalia hatte gewusst, was sich in dem Papier befand, es war die letzte Spielfigur, die auf dem Schachbrett fehlte – die Dame. Doch die Besonderheit der Figur hatte sie überrascht. Sie war aus rotem Marmor. Ungläubig hatte sie ihn angesehen, und er hatte ihr von der Geschichte berichtet, die sich um die Entstehung der Dame rankte. Von dem Prinzen, der die Schachfiguren für eine Frau anfertigen ließ, die er liebte. Rot – die Farbe der Liebe, aber auch des Blutes, war es ihr seltsamerweise durch den Kopf geschossen.
Amalia hatte die Kühle unter ihren Fingern gespürt und das Gefühl gehabt, der Marmor würde ihr durch die Jahrhunderte hindurch seine Geschichte erzählen wollen. Sie sah den Künstler vor sich, wie er einst sorgsam das Material ausgewählt hatte, es meißelte und schliff, und wie unter seinen Händen nach und nach die Figur entstanden war. Was hatte die Frau wohl empfunden, als der Prinz sie ihr zum Geschenk machte? Hatte sie sich damals ähnlich gefühlt wie sie heute? Verloren in der Leidenschaft ihrer eigenen Gefühle?
Amalia hatte seine Hände genommen und um die Dame geschlossen. Fühlst du den Marmor, spürst du, was er dir erzählt …
Er hatte sie verständnislos angesehen, und in einer spontanen Eingebung hatte sie ihm die Hände auf die Ohren gelegt, ihn daran gehindert zu hören.
Versuch es zu spüren!
Er tat es, und sie merkte, dass er mit einem Mal zu verstehen begann, was sie meinte.
Du hast mich einmal gefragt, wie es ist, nicht zu hören. Genau so – ich nehme
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