Die Sehnsucht der Konkubine
steckte ihn in ihre Tasche zurück, ohne dabei das Handgelenk des Ganoven loszulassen. Es war ein Junge.
Der Dieb beschimpfte sie. »Scheiß auf dich!«
Sie blinzelte. Milchweißes Haar und leuchtend blaue Augen. Ein schmales, knochiges Gesicht, mit einem Mund, der ihn viel älter machte, als er war. Es war der Junge aus der Kartonbehausung. Er starrte sie finster an, und sie erkannte in seinem Blick, dass ihm dämmerte, woher er sie kannte.
»Lass mich gehen«, murmelte er.
Sie dachte gerade darüber nach, ob sie ihn loslassen sollte, als der Junge blitzschnell den Kopf senkte. Ein scharfer Schmerz fuhr ihr durch den Handrücken, und sie rang nach Luft. Er hatte sie gebissen. Diese dreckige Kanalratte hatte ihre Zähne in sie geschlagen, durch den dünnen Handschuh hindurch. Doch als sie ihre Hand losmachte, lief er zu ihrer Überraschung nicht weg. Plötzlich hing er in der Luft, die Füße über dem Boden, er fluchte und trat um sich wie ein Maultier. Popkow hielt den Straßenjungen mit finsterer Miene und an einem ausgestreckten Arm am Nacken gepackt.
»Njet« , grollte der Kosak und schüttelte den Jungen so heftig, dass dieser die Augen verdrehte.
»Hör auf, Liew«, sagte Lydia.
Popkow schüttelte den Jungen noch einmal kräftig durch. Dieses Mal hing der Malträtierte ganz schlaff an seinem Arm, und einen erschreckenden Moment lang dachte Lydia, er sei tot, doch als die Scheinwerfer eines Autos über sein Gesicht hinwegwanderten, sah sie, dass seine Augen weit offen standen, mit Angst und Wut erfüllt.
»Lass den Kleinen gehen, Liew. Setz ihn ab.« Sie zog ihren zerbissenen Handschuh aus und sog an dem scharlachroten Rinnsal, das aus ihrem Handrücken quoll. »Wahrscheinlich kriege ich jetzt Tollwut.«
Doch Popkow wollte nicht auf sie hören. Er durchsuchte die Taschen des Jungen, zog dabei ein Paar Damenhandschuhe, eine Hand voll Münzen sowie zwei Feuerzeuge heraus. Eines war mit Emaille und Gold unterlegt. Popkow steckte sich das Beutegut in die eigene Tasche und nahm dem Jungen dann die Leinentasche ab, die er sich quer über die dünne Brust gehängt hatte. Sofort erwachte der Junge zu neuem Leben. Er trommelte so fest mit den Fäusten gegen den Brustkorb seines Gegners, dass Popkow ein wütendes Schnauben von sich gab und dem Jungen eine Kopfnuss versetzte. Das brachte ihn zur Räson.
Der Kosak warf Lydia die Tasche zu, doch die wusste bereits, was sich darin befand, noch bevor sie sie auffangen konnte. Behutsam löste sie die Schnur, mit der die Tasche zugebunden war, und blickte in zwei feuchte, braune Augen, die vor Angst weit aufgerissen waren. Ein Winseln drang aus der rosa Schnauze.
»Lass den Jungen runter«, befahl Lydia.
Popkow ließ den Jungen auf den Bürgersteig fallen, der nach wie vor keine Anstalten machte wegzulaufen. Er ließ den Sack in Lydias Armen nicht aus den Augen.
»Hier«, sagte sie und hielt ihm die Tasche mit dem Welpen hin. »Nimm Misty.«
Der Junge schloss die Arme beschützend um das Leinenbündel. Lydia griff in Popkows tiefe Tasche und zog das emaillierte Feuerzeug heraus, das sie einen Moment bewunderte, bevor sie es zögernd dem Jungen zurückgab.
»Und jetzt hau ab«, sagte sie lächelnd.
Der Junge erwiderte ihr Lächeln nicht. Er warf Popkow nur einen Blick puren Hasses zu und rannte in eine Seitengasse davon.
»Diese Kanalratten müsste man ausrotten«, brummte der Kosak.
»Er ist nur ein Junge, der versucht, mit allen Mitteln zu überleben«, erwiderte Lydia.
Sie hängte sich bei Popkow ein und führte ihn auf das hell erleuchtete Hotel Metropol zu. Mit seiner pompösen Fassade stand es gegenüber dem Bolschoi-Theater, festlich und einladend, doch sie waren auch nur einen Steinwurf vom Kreml entfernt, einer Festung, deren Wände so rot leuchteten, als wären sie mit Blut getränkt. Selbst in der Dunkelheit erschauderte Lydia.
»Das Problem mit dir, Liew«, sagte sie streng, »ist, dass du die ganze Zeit kämpfen willst.«
»Das Problem mit dir, Lydia«, gab er brummend zurück, »ist, dass du zu viele Flausen im Kopf hast.«
»Hat das nicht jeder?«
Er blickte sie mit gerunzelter Stirn an. »Manche mehr als andere.«
NEUNUNDZWANZIG
L ydia tanzte. Es war so lange her, dass sie das letzte Mal getanzt hatte, dass sie ganz vergessen hatte, wie berauschend es sein konnte. Die Musik schwebte durch die Luft, schwingend und zart, während das fünfköpfige Orchester einen Walzer von Strauss anstimmte und Dmitri Malofejew sie über die Tanzfläche
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