Die Seidenstickerin
Amandine mehrere Tage ohne Futter aushalten. Sie verlangte nur immer wieder einige ordentliche Schlucke Wasser, und Alix ritt stets in Flussnähe, damit sie beide immer genug zu trinken hatten.
Jetzt schnalzte sie mit der Zunge, um das Muli ein bisschen anzutreiben.
»Beeil dich, meine Gute!«, sagte sie fröhlich. »In Nantes bekommst du bestimmt von Dame Bertrande eine ordentliche Portion Hafer. Und weißt du was, meine Schöne? Ich bin ganz sicher, dass ich diese Frau mag und dass sie mich schätzt. Was sagst du dazu?«
Als Antwort beschleunigte Amandine lediglich ihren Schritt ein wenig, und ihre Hufe klapperten noch lauter.
»Der wird sich wundern, wozu ich fähig bin, der feine Herr Coëtivy! Er hat mich für ein gemeines, mittelloses Waisenkind gehalten, einen Dummkopf, ein Nichts! Aber du wirst schon sehen, Amandine, wie ich mich verteidigen kann.«
Das Muli wedelte mit seinem grauen Schwanz, wurde aber nicht langsamer, sondern eher schneller und witterte mit bebenden Nüstern.
»Ja, Meister Coëtivy, Ihr habt es nicht anders gewollt – ich erkläre Euch den Krieg. Und bei meiner Ehre als zukünftige große Teppichweberin, ich werde ihn gewinnen.«
Während der folgenden Tage machte Alix nur drei richtige Pausen, wobei sie zweimal im Stall eines Gasthauses Unterschlupf fand und sich einmal bei milden Temperaturen in einem Wäldchen verkroch, mit ihrer Provianttasche als Kopfkissen und dem Messer in Reichweite.
So erreichte sie nach etwa zehn Tagen die Tore von Nantes; Amandine zeigte allerdings mittlerweile auch erste Anzeichen von Erschöpfung.
Mit kundigem Blick machte sie den Hügel aus, hinter dem sie das große Anwesen von Dame Bertrande vermutete. Sie musste erst die Wiesen und Wälder durchqueren, ehe sie auf den Zufahrtsweg kam. Einzelne große Felsen aus der bretonischen Heide, die nach Meer rochen, fanden sich hie und da und verdeckten immer wieder das große Haus des Meisters und seiner Gattin.
Endlich hatte sie den Sandweg entdeckt. Breit und kurvig zog er sich unter hohen Bäumen hin, deren grüne Kronen im Wind schwankten; rechts und links war er von großen grauen Felsen gesäumt, die bis zu drei Meter hoch waren.
Alix nahm den Weg, der zum Haupteingang des großen niedrigen Hauses führte. Es war ein lang gestrecktes Gebäude mit Schieferdach und Granitmauern, in dem sich der Wohntrakt mit den Nebengebäuden, den Schuppen und den Ställen befand.
Alix hatte einen Augenblick angehalten und die Zügel von Amandine losgelassen, die nun erschöpft schnaubte. Zahllose Bilder gingen ihr durch den Kopf. Plötzlich sah sie sich sieben Jahre zurückversetzt als kleines Mädchen wieder, das sich in einer Kutsche versteckt hatte, weil sie aus Nantes geflüchtet war, um bei den drei Freundinnen ihrer verstorbenen Mutter zu bleiben.
»Also los, Amandine! Jetzt schauen wir uns diese Dame Bertrande einmal aus der Nähe an.«
»Wer da?«, rief plötzlich jemand hinter ihr.
Alix drehte sich um und sah einen untersetzten Mann mit kurzen Beinen, der sie mit finsterer Miene misstrauisch beäugte. Unter seiner grauen Wollmütze, die er bis zu den Ohren hinuntergezogen hatte, verbarg sich wohl eine üppige schwarze Mähne, weil ihm einige widerspenstige Haarbüschel bis auf die dichten Augenbrauen fielen und rechts und links von seinem runden, roten Gesicht struppig wegstanden.
Weil es nicht mehr weit zu den Ställen war, vermutete Alix, dass der Mann ein Stallknecht war, den Amandines Hufgeklapper neugierig gemacht hatte; sie bemerkte, dass die Stalltüre offen stand, weil er wahrscheinlich gleich wieder dorthin zurückwollte.
Als der Mann sah, dass er ein junges Mädchen vor sich hatte, schaute er nicht mehr ganz so misstrauisch drein. Er sagte weiter nichts, sondern wartete nur auf ihre Antwort.
»Ich möchte bitte Dame Bertrande sprechen«, sagte Alix laut und deutlich.
Aber eine andere Stimme antwortete ihr, eine Stimme, die Alix immer wieder erkannt hätte! Eine Stimme aus der Hölle!
»Wer fragt da?«
Alix fuhr entsetzt zusammen. Alle ihre Träume, die sie sich ausgemalt und hunderte von Malen vorgestellt hatte, während sie auf dem Rücken von Amandine nach Nantes geritten war, fielen in sich zusammen. Meister Coëtivy war aus dem Stall gekommen und baute sich vor ihr auf.
Er machte eine grimmige Miene. Aus Überraschung? Das dürfte wohl kaum zutreffen. Vor Scham? Wohl erst recht nicht. Aber an seinen zusammengekniffenen Lippen und seinen vor Zorn schwarz funkelnden Augen konnte
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