Die Seidenstickerin
einige Stunden zuvor beinahe zerquetscht hätte. Und sie begriff auch, dass sich ihr Traum wieder einmal in Luft aufgelöst hatte und ihr auch der triste, kalte Himmel nicht helfen wollte.
Sie wurde zwar weder vergewaltigt noch geschlagen, aber rücksichtslos auf den harten Kutschboden geworfen. Und weil die Männer sichergehen wollten, fesselten sie Alix auch noch an den Füßen.
Nach mehreren Stunden schlief sie dann doch vor Erschöpfung ein oder dämmerte vielmehr vor sich hin, weil irgendwelche fremden Geräusche ihren Schlaf störten. Sie wurde aber bald wieder wach und machte dann kein Auge mehr zu.
Irgendwie gelang es ihr, sich an der Wand hochzuziehen und durch das einzige kleine Fenster im Wagen zu schauen, und da sah sie nur tiefe Nacht und einige wenige Sterne, die sie aber doch ein bisschen trösteten. Immerhin wusste sie jetzt, dass die Kutsche nicht in irgendeinem Schuppen versteckt, sondern wohl im Freien abgestellt war. Anscheinend wartete man etwas ab, ehe weiter über ihr Schicksal entschieden wurde.
Als es Tag wurde, wusste sie nicht, ob es noch schlimmer kommen würde oder ob sich ihr Schicksal zum Guten wenden sollte. Die beiden Männer holten sie und brachten sie in ein kleines Haus an der Loire, neben einer alten Mühle mit einem Wassergraben. Vom Fenster aus konnte sie den Fluss sehen, dessen Ufer allmählich wieder grün wurden. Von den kleinen Inseln in der Flussmitte löste sich etwas Sand und trieb ockerfarben im grauen Wasser, was von weitem wie ein großer auf dem Rücken schwimmender Fisch aussah.
Die Sonne war noch sehr schwach, und am Himmel zogen viele Schwalben ihre kunstvollen Kreise. Hatten sie gerade ihre Heimat wiedergefunden, oder sammelten sie sich um weiterzufliegen?
Ein paar Raben ließen sich schwerfällig zwischen mageren Grasbüscheln auf dem eben erst aufgetauten Boden nieder und krächzten laut.
Doch trotz dieses beruhigenden frühlingshaften Anblicks vor ihrem Fenster war Alix entsetzt, als sie den breiten Graben tief unter sich sah, der das Haus und die mittelalterliche Mühle umgab. Wie sollte sie durch dieses Fenster fliehen, wenn darunter eine solche Falle auf sie wartete? Oder durch diese Tür, die sie schon zu öffnen versucht hatte, die aber von außen abgeriegelt war?
Alix war gefangen und rechnete jeden Augenblick mit dem Erscheinen von Meister Coëtivy. Sie wusste, dass seine Rache schrecklich sein würde. Nie würde er ihr verzeihen, dass sie seiner Frau die traurige Wahrheit enthüllt hatte, und genauso wenig, dass sie Jacquou durch ihre Heirat dazu gebracht hatte, sich mit bescheidenen Verhältnissen zufriedenzugeben.
Wieder und wieder untersuchte sie den Wassergraben, der sie von der friedlichen Landschaft dahinter trennte, und seufzte entmutigt. Gab es denn wirklich keinen Fluchtweg? Sie dachte kurz an den Kamin, aber bei der Vorstellung, sie könnte in dem engen Gang ohne Luft und Licht stecken bleiben und müsste ersticken, litt sie Todesängste.
Das Zimmer, in dem sie eingesperrt war, war sehr sparsam möbliert. Ein Strohsack ohne Kissen und Decke diente als Bett. Auf einem schmalen Tisch standen ein Krug mit Wasser und ein Stück trockenes Brot; dann gab es noch einen dreibeinigen Hocker und einen leeren Eimer – das war die ganze Einrichtung.
Sie wurde bereits zwei ganze Tage dort festgehalten, und als der dritte Tag anbrach, verfiel sie in Panik. Wasser und Brot hatte sie schon längst aufgebraucht. Und sie hörte keinen Ton, nicht einen Schritt, kein Geräusch drang bis zu ihr. Es herrschte Totenstille. Seltsamerweise verspürte sie weder Durst noch Hunger, wohl weil sie ganz damit beschäftigt war, auf ein Geräusch zu warten, das sie dann doch vermutlich überraschen würde.
Sie lag auf ihrem Strohsack und versuchte die Stunden zu zählen, träumte, dämmerte vor sich hin, wachte wieder auf und bekam Angst.
Am Abend des vierten Tages endlich vernahm sie das gefürchtete Geräusch. Eine Tür fiel zu, Schritte, ein Schlüssel wurde leise im Schloss gedreht. Dann kamen die Schritte näher und wurden immer lauter, bis sie plötzlich direkt vor der Tür waren, die sich endlich öffnete.
Und Meister Coëtivy stand vor ihr – selbstgefällig und zynisch, mit unzugänglichem Blick und entschlossener Miene, die verriet, dass er auf keinen Fall Zugeständnisse machen wollte. Alix begriff sofort, dass sie sich beugen musste.
Eine Zeit lang sahen sie sich wortlos an, und Alix wartete mit klopfendem Herzen darauf, was er wohl sagen würde.
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