Die Seidenstickerin
später zugetragen hat.«
»Hier entscheiden ganz allein wir, was wichtig ist und was nicht«, gab der Richter trocken zurück.
Berthoulas wollte etwas entgegnen, hielt sich dann aber zurück, weil der Staatsanwalt seinem Eifer zuvorkam und fortfuhr:
»Nach Eurer Heirat habt Ihr Euch auf das Schloss von Blois zurückgezogen, das Ihr erst Jahre später verlassen habt.«
»Wollt Ihr damit vielleicht andeuten, dass ich in der Zeit keine Verbindung zu meinem Mann hatte?«, fragte Jeanne laut und deutlich. »Wenn das so ist, täuscht Ihr Euch, Herr Staatsanwalt.«
Ihr war nicht mehr schwindlig, und sie sah den Richter jetzt mutig an.
»Ich bin nicht sofort nach Blois gegangen«, fuhr sie schnell fort, um sich seine Überraschung zu Nutze zu machen und zu sagen, was sie sagen musste. »Als frisch vermählte Frau des Herzogs von Orléans, Louis de Valois, bereiste ich im traditionell goldenen, mit Lilien übersäten Gewand die Städte des Val de Loire und wurde dort triumphal empfangen und von der Bevölkerung an der Seite meines Gatten jubelnd begrüßt.«
Der Staatsanwalt zuckte nur die Achseln.
»Ein offizieller Besuch! Weiter nichts.«
»Ja, offiziell, wie Ihr eben gesagt habt«, stimmte ihm Jeanne zu. »Genauso offiziell wie unsere Ankunft in Linières, wo ich aufgewachsen bin. Das können Euch Zeugen bestätigen.«
Alle schwiegen. Staatsanwalt und Geschworene sahen sich an, dann sagte einer von ihnen:
»Man lasse den ersten Zeugen holen.«
Es erschien eine alte Frau. Über ihrem weißen Haar trug sie einen Schal aus schwarzer Wolle, den sie nun abnahm und sich um die Schultern legte. Dann sah sie Jeanne an und lächelte ihr zu.
»Wie heißt Ihr?«, rief der Geschworene.
»Ich heiße Lisa, Exzellenz.«
»Schwört Ihr, die Wahrheit zu sagen, nichts als die Wahrheit?«
Die alte Frau spitzte den Mund und kniff die Augen zusammen.
»Ich schwör’s.«
»Wer seid Ihr, und was habt Ihr vorzubringen?«, fragte der Kanzlist.
»Ich bin eine von Dame Jeannes Zofen, schon seit sie klein war und nach Linières gekommen ist. Ach, ich kann Euch sagen, sie ist da ziemlich eingesperrt gewesen. Aber an dem Tag, wo der Herzog den Krieg erklärt hat, der gar nicht gut für Frankreich war, und wo er eingesperrt worden ist von …«
»Fasst Euch kurz, bitte!«, schnitt ihr der Geschworene das Wort ab, der keinen Wert darauf legte, die jugendlichen Irrtümer des Königs besonders hervorzuheben. Besser man belastete seine Vergangenheit nicht unnötig.
Die Zofe wandte sich also wieder zu Jeanne und sah ihr lange in die Augen, und Jeanne begriff, dass ihre treue Dienerin wusste, was sie von ihr erwartete.
Dann musterte sie den Mann, der sie drohend ansah.
»Als Dame Jeanne nach der Hochzeit gekommen ist, hat sie der Herzog begleitet«, sagte sie.
»Haben sie die Nacht zusammen verbracht?«
»Und ob, Exzellenz!«
Jeanne lächelte erleichtert. Am liebsten hätte sie ihre gute alte Lisa für diesen spontanen Ausruf umarmt, den sie so überzeugend vorgebracht hatte.
Der Geschworene kratzte sich am Hals, drehte den Kopf in Richtung Angeklagte und heftete seinen Blick dann wieder auf die Dienerin, die ihn frech zurückgab.
»Und ob, Exzellenz!«, wiederholte sie.
»Ob sie die Nacht zusammen verbracht haben, will ich wissen«, fragte der Vertreter der Anklage gereizt nach.
»Ich sag doch: die ganze Nacht«, antwortete die alte Frau.
Jetzt erhob sich Advokat Berthoulas. Er gab sich ruhig und bescheiden, hatte nur noch wenig Haar und einen stark geröteten Teint. Mit seinem schlichten Benehmen und dem wenig schwungvollen Auftreten wirkte er eher wie ein Kaufmann und nicht so sehr wie ein Jurist.
»Lisa, Dame Jeannes Zofe, hat geschworen, die Wahrheit zu sagen«, sagte er ganz ruhig. »Was wollt Ihr also noch?«
Der Vertreter der Anklage lächelte vielsagend.
»Diese Frau darf erst spät zu Bett gehen und muss früh aufstehen. Weiß sie überhaupt, was unter einer ganzen Nacht zu verstehen ist?«
»Einspruch!«, rief Berthoulas.
»Stattgegeben«, sagte der Richter nach einem kurzen Blick in Richtung Geschworene. »Man hole den nächsten Zeugen.«
Doch die alte Lisa hatte noch nicht alles gesagt und rief im Gehen:
»Ich verwechsel doch nicht die Glocke in der Kapelle, die jeden Tag den Abendgruß läutet, mit der, die zur Morgenmesse läutet. Und ich weiß auch, wie eine ausschaut, die grad ihre Hochzeitsnacht gehabt hat. Ich kann Euch jedenfalls sagen, dass Frau Jeanne ihre Hochzeitsnacht gehabt hat.«
Es dauerte
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