Die Sklavin des Sultans: Roman (German Edition)
die ihm die Nachricht zutragen könnten. Man sieht sie im Zwielicht oder auf dem Höhepunkt eines Schneesturms aus den Augenwinkeln: ein Aufscheinen von Licht, wo es kein Licht geben dürfte, eine matte Flamme im Dunkel.
Einige der für die Körperhygiene des Sultans zuständigen Sklaven stehlen sich nach dem letzten Gebet in das Lager der Soldaten und betteln um ein Stück Maultierfleisch. Ich erwische Abid, wie er die letzten Fleischfasern aus einem Knochen saugt, und als ich ihm verspreche, ihn nicht zu verraten, weint er beinahe vor Erleichterung. Um ehrlich zu sein: Mir fehlt einfach die Kraft. Es gibt Zeiten, da ginge ich am liebsten in den Schnee hinaus, legte mich hinein und überließe es seinen weißen Schwingen, mich wie die des Weißen Schwans ins Vergessen zu tragen.
Gerade als dunkle Erinnerungen über den Kannibalismus benachbarter Stämme mich zu verfolgen beginnen, ereignet sich das lange ersehnte Wunder. Einer unserer Jäger wankt mit einem Bergschaf auf den Schultern, das er auf den gefährlichen Gipfeln erlegt hat, ins Lager zurück. Der Sultan feiert seine Ankunft mit Lobpreisungen und Gebeten. Er bestaunt die auffallend geschwungenen Hörner und belohnt den Jäger mit einem Beutel voller Gold, das der Mann mit gebührender Dankbarkeit und einem traurigen Gesicht annimmt. Ismail sieht, dass der Mann für jede einzelne Münze lieber einen Bissen Lamm gehabt hätte, und schenkt ihm großzügig einen Teil der gerösteten Lammkeule, woraufhin der Jäger in Tränen ausbricht, sich vor dem Sultan niederwirft und ihn zum größten, mildtätigsten, göttlichsten und beliebtesten Herrscher erklärt, den Marokko je hatte. Ismail ist so entzückt, dass er den Mann eigenhändig aufrichtet und ihn zum Kaid erklärt, mit Anspruch auf einen gerechten Anteil aller Beute, die wir aus Sidschilmasa mitgebracht haben. Der Mann traut seinen Ohren nicht. Die ganze Nacht geht er von einem zum anderen und bittet jeden von uns, das Versprechen des Sultans zu wiederholen, für den Fall, dass er nur geträumt habe.
Das Wetter verschlimmert sich. Drei Tage kommen wir nicht vom Fleck. Der Schnee verschlingt uns, alles ist unter ihm begraben. Es werden Wachen aufgestellt, die dafür sorgen sollen, dass die Zelte des Sultans nicht unter der Schneelast zusammenbrechen und ihre Bewohner ersticken. Eines Morgens finden wir zwei von Ismails Türwächtern an Ort und Stelle erfroren, graue Schatten ihrer früheren Ichs.
Als die Schneestürme endlich nachlassen, meldet ein Späher, dass sich eine Horde von berberischen Stammesangehörigen am Eingang eines unter uns liegenden Tals versammelt hat, um unseren Abzug aus den Bergen zu verhindern. »Sie wollen uns am ausgestreckten Arm verhungern lassen«, meint ben Hadou grimmig.
Es wird nicht lange dauern. Selbst das Bergschaf ist nur noch eine ferne Erinnerung. »Bring ihnen Geschenke und frag sie, wer sie sind«, sagt Ismail zu al-Attar , der selbst in seiner ausgemergelten Verfassung immer noch der beste Unterhändler von uns ist.
Wir warten, erschöpft und frierend. Ob die Berber al-Attar töten und uns seinen Kopf zurückschicken, um uns zu verspotten? Vielleicht wird er auch einfach im Schnee sterben. Oder in einem Augenblick der Schwäche der Verlockung eines schmackhaften mechoui nachgeben und sich mit ihnen verbünden – wir sind alle sicher, dass man uns schon mit viel weniger auf ihre Seite ziehen könnte. Niemand erwartet etwas von diesem Gesandten. Für die Stammesleute wäre die Vernichtung ihrer Feinde nur von Vorteil; sie haben nichts zu verlieren. Doch der Sultan, raffiniert wie eh und je, hat ganz andere Pläne im Sinn. Als ben Hadou zurückkommt, ist er nicht allein. Zwei Berber, gut geschmiert mit königlichem Gold, sind bei ihm, die uns zum Pass von Telwet und weiter in die Ebenen von Marrakesch führen sollen, wobei wir die Truppen der Berber im Schutz der Nacht umgehen.
Mit dem ruhigen Pragmatismus der wahrhaft Verzweifelten lassen wir dreitausend Zelte, alle kostbaren Schätze, die wir im Palast von Sidschilmasa erbeutet haben, und die Leichen von zweihundert Sklaven zurück, die sich weigerten, noch einen Schritt weiterzugehen, und ziehen uns im Licht des Vollmonds geräuschlos zurück.
Einen vollen Tagesmarsch später sind wir in Sichtweite der rot ummauerten Stadt. Da in ihrem Innern noch die Pest wütet, kehrt Ismail in die Berge zurück, wo wir ein Berberdorf überfallen und sämtliche Schafe und Ziegen verschlingen, die die Dorfbewohner in diesem
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