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Die Sonnwendherrin

Titel: Die Sonnwendherrin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Kashina
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wünschte, der Wolf könnte seinen Platz einnehmen. Doch dafür war es zu spät. Da musste er jetzt durch.
    |74| »Kann man sie meiden?«, fragte er bedächtig.
    Der Blick des Wesens wurde unstet und senkte sich schließlich. Offenbar betrachtete es die glitzernden Flecken des Mondscheins auf dem nassen Gras.
    »Ja«, antwortete es.
    Iwan seufzte. Es war nicht leicht, mit den Unsterblichen zu sprechen. Dies war nun die erste klare Antwort, die er aus ihm herausbekommen hatte. Mit Hilfe des Netzes hätte es eigentlich einfacher sein müssen. Warum solche Schwierigkeiten?
    »Warum hast du mir das nicht gleich gesagt?«, fragte er frustriert.
    Das Wesen zuckte mit den Schultern, fast wie ein Mensch. »Du hast nicht danach gefragt«, sagte es.
    »Ich dachte, das hätte ich!«, widersprach Iwan hilflos. So kamen sie nicht weiter.
    Der düstere Blick des Wesens traf den seinen. »Hör zu, Junge«, sagte es. »Du hast das Netz benutzt und mich gefangen. Ich bin hilflos. Du kannst mit mir machen, was du willst. Aber erwarte bitte nicht, dass ich dir aus freien Stücken helfe. Sollen dich doch deine schlauen Lehrmeister, wer immer diese auch sein mögen, aus dem Schlamassel ziehen, in den du dich selbst gebracht hast.« Er ließ scharf den Schnabel zuschnappen und wandte sich ab.
    Wieder seufzte Iwan. Alle Unsterblichen, mit denen er zu tun hatte, schienen ziemlich leicht reizbar zu sein. Warum konnte sich keiner von ihnen klar ausdrücken, wie normale Menschen?
    Weil sie eben keine Menschen sind, beantwortete er seine Frage selbst. Sie sind die Unsterblichen. Einen von ihnen hatte er vor sich, in einem magischen Netz gefangen. Er musste Informationen aus ihm herausbekommen. Der andere war verpflichtet, ihm zu antworten. Alles, was er tun musste, war, die richtigen Fragen zu stellen.
    |75| Die – richtigen – Fragen.
    Bislang hatte er nur eine Antwort erhalten, und zwar auf eine einfache, klare Frage.
    Eine Frage stellen, eine Antwort erhalten.
    Konnte es wirklich so einfach sein?
    »Sage mir«, fragte er das Wesen, »welche ist die erste Falle?«
    Es gab eine kurze Pause, bevor sich die dunkle Vogelgestalt wieder ihm zuwandte. Sie bewegte sich steif unter den luftigen Banden des Netzes.
    »Du bist doch nicht so dämlich, wie du aussiehst, Junge«, sagte das Wesen. »Also, hör zu.«

|76| Marja
    Ich landete auf dem Fenstersims und legte meine Taubenschwingen an, wobei ich die Feuchtigkeit der Nachtluft abzuschütteln versuchte. Mein Kopf schwamm noch von all den Erinnerungen. Trotzdem war es leichter, meine Sinne in der Taubengestalt unter Kontrolle zu halten.
    Doch ich konnte nicht länger auf dem Fenstersims bleiben. Ich musste mich zurückverwandeln.
    So flog ich hinein, setzte mich auf den Boden vor den Spiegel und konzentrierte mich ganz darauf, wieder meine menschliche Gestalt anzunehmen. Ich befahl dem Spiegel, mir mein Abbild zu zeigen. Dann stand ich da, betrachtete mein Spiegelbild und versuchte, die Nacktheit meines Körpers mit den Augen eines Mannes zu bewundern. Ich strich mit beiden Händen von meinen Brüsten bis zu den Hüften hinab, fühlte, wie weich und zart meine noch immer erhitzte Haut war, und stellte mir vor, wie mich ein Mann sehen mochte. Und glaubte, alles richtig gemacht zu haben.
    Der Mann, den ich auserwählt hatte, wusste genau, was er tat. Ich hatte noch nie einen besseren gehabt. Er hatte mir alles gegeben, was ich mir wünschte. Alles war genau so geschehen, wie ich es geplant hatte. Es hatte bisher immer geholfen. Und es würde auch diesmal helfen. Ich musste mir nur etwas Zeit lassen.
    So konzentrierte ich mich auf meine zweite Verwandlung. Ich beobachtete im Spiegel, wie mein Haar auf seine normale Länge wuchs und sich dabei rabenschwarz verfärbte. Mein Gesicht wurde wieder schmal und blass, kalte |77| Schönheit trat an die Stelle des warmen Liebreizes, den ich als Mädchen vom Lande ausgestrahlt hatte. Ich sah, wie meine Augen den Braunschimmer verloren und meine normale Farbe, die von smaragdenem Feuer, zurückkehrte. Ich nahm mein langes schwarzes Kleid, zog es mir über den Kopf und sah zu, wie der seidige Stoff meinen Körper hinabglitt und ihn verhüllte. Die abenteuerlustige Bauernmaid verschwand, und die Sonnwendherrin kehrte in all ihrer Macht zurück.
    Eines musste ich noch erledigen, bevor ich mich schlafen legte.
    Lautlos verließ ich meine Gemächer und stieg eine enge Wendeltreppe hinab zur Küche. Der feuchte, salzige Geruch nach siedendem Fleisch empfing mich. Ich

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