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Die Sonnwendherrin

Titel: Die Sonnwendherrin Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Anna Kashina
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verzog die Nase. Die Sonnwendherrin aß kein Fleisch. Doch in unserem Schloss gab es, wie in jeglichem königlichen Wohnsitz, viele hungrige Mäuler zu stopfen. Jeden Tag wurde im Hinterhof eine Kuh geschlachtet, um unseren großen Haushalt zu ernähren. Das Fleisch wurde tagsüber gekocht, und all die Knochen und Parüren wurden in einen mächtigen Kessel geworfen, wo stets eine Brühe am Kochen war. Die dicke Suppe daraus, die wir »Warewo« nennen, war zu später Stunde die Lieblingsspeise des müden Küchenpersonals.
    Der Fleischgeruch drehte mir fast den Magen um. Er erinnerte mich mit einem Mal daran, dass ich seit dem frühen Morgen nichts mehr gegessen hatte, als ich zu dem Piniendorf aufgebrochen war. Es schien eine Ewigkeit her zu sein. Ich wankte einen Moment lang und musste stehen bleiben, doch dann raffte ich mich auf und begab mich tiefer ins warme Innere der Küchenräume hinein.
    Als ich in den großen zentralen Gewölberaum trat, dessen bloße Steine mit dem Duft nach Speisen gesättigt schienen, bemerkte ich eine rasche Bewegung an meiner Seite. Ich erstarrte.
    |78| Die Seitentür schwang quietschend auf, und Fackelschein ergoss sich über mein Gesicht.
    »Herrin?«
    Die Stimme klang eher erschrocken als überrascht.
    »Pavel?«, riet ich, vom Fackelschein geblendet.
    Er senkte die Fackel und trat zögernd vor. Trotz seiner enormen Körpergröße ließ ihn die Angst klein erscheinen. Die Gemeinen glaubten, dass ich Unglück brächte. Während ich das bei Dorfbewohnern für verständlich halte, überraschte mich so viel Aberglaube bei den Bewohnern unseres Schlosses. Allerdings wurden viele von ihnen auf dem Land geboren und von alten Weibern aufgezogen. Die Legenden von der gefühlslosen Sonnwendherrin, die zur Mittsommernacht Jungfrauen jagte, waren weit über das Land verbreitet. Bis auf Praskowja und meine anderen Dienerinnen hielten alle Bewohner des Schlosses Abstand zu mir.
    »Ich – äh – wa noch spät draus; hab nache Pferde gesehn. Is mächtig kalt draus. Klava hat mir gesagt, ’s gibt noch Warewo. Ähem – tschuldigung, Herrin, Euch zu stören!«
    Er schob sich zur Tür zurück. Dabei sah er so zerknirscht aus, dass ich fast lächeln musste.
    »Geh nur hinein, Pavel«, sagte ich. »Du störst mich nicht. Ich habe nur kurz hier zu tun.«
    Er nickte. »Soll ich ’n bisschen Licht für Euch machen, Herrin?«, fragte er. »Is ziemlich duster hier drin.«
    »Es ist schon in Ordnung«, versicherte ich. Es war ein eigenartiges Gefühl, mit dem Stallburschen zu sprechen. Dem Personal kam ich sonst niemals so nahe. Ich nahm sogar seinen Geruch nach Heu und Schweiß wahr und sah die Schwielen an seinen Händen.
    Schließlich erreichte ich die kleine Speisekammer am Ende der Küchenräume. Ein berauschender, würziger Duft schlug mir entgegen, als ich eintrat. Der Lichtschein aus einem winzigen Fenster reichte gerade noch aus, um mich die |79| Reihen von Einmachgläsern auf den Regalbrettern und die Bündel, die von der Decke hingen, erkennen zu lassen.
    Ich kannte die Kammer in- und auswendig, und so fanden meine Hände trotz des Halbdunkels mühelos die neun verschiedenen Kräuter, brachen trockene Blätter von den entsprechenden Bündeln ab und legten sie in einen Krug, den ich im Regal entdeckt hatte. Am Ende war mir so schwindlig, dass ich nicht länger den Duft eines Krautes von dem eines anderen zu unterscheiden vermochte.
    Mit meiner Beute tastete ich mich durch die Dunkelheit zurück in die Küche. Am hinteren Tisch beugte sich Pavel über eine Schüssel Warewo. Er tauchte einen Kanten Brot in die dicke Fleischsuppe und aß schmatzend mit einem verträumten Gesichtsausdruck. Einen Augenblick lang empfand ich Bedauern, dass ich einfaches Essen nicht ebenso genießen konnte wie er.
    Als ich in Richtung eines anderen Küchenraums ging, wo ein kleinerer Kessel mit Teewasser noch über der Glut hing, versperrte mir eine Gestalt den Weg. Ich blieb stehen und erkannte die Züge einer molligen Frau, die ein graues wollenes Kopftuch trug.
    »Klava?«, fragte ich. »Was machst du denn hier?«
    »Herrin«, sagte sie mit großem Respekt, »ich bin im Auftrag von Praskowja hier.«
    »Oh.« Ich trat zurück, froh, dass ich mich noch über so etwas amüsieren konnte und nicht nur Ärger empfand. »Und worin besteht dieser Auftrag?«
    »Also«, Klava atmete tief durch und nahm offensichtlich ihren ganzen Mut zusammen. »Praskowja – sie hat gesagt, Ihr hättet heute Abend noch nicht einmal Euren

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