Die Spur der verlorenen Kinder
wusste sie es: Sie war auf einem Anwesen, das abgebrannt war, bevor sie mit ihrer Mom und Nadine nach Tango gezogen waren.
Sie und ihre Mutter waren einmal an der Kirche vorbeigekommen, als sie mit den Rädern die Old Post Road entlanggefahren waren. Die Zäune waren voller Kein-Durchgang-Schilder, mehr wusste sie nicht. Doch in dieser Zeit lebte das Land. Sie war hindurchgerannt, durch den tiefen Wald. Sie hatte die Gräber gesehen. Wenn Sheppard durch ein Wunder diesen Ort finden konnte, würde er untersuchen, was in seiner Zeit Ruinen wären? Ja. Er war gründlich.
Aber nichts davon half. fünfunddreißig Jahre trennten sie von ihrer Mutter, von Sheppard, Nadine, ihren Katzen, ihrem Leben. Niemand würde zu ihr zurückkommen, um sie zu befreien. Selbst Rusty hatte zugegeben, dass er nicht wusste, wie Peter durch dieses Ding gelangte, das man den Korridor nannte. Und das hieß, dass sie ganz allein einen Weg hier raus und zurück in ihre eigene Zeit finden musste. Sie hoffte, dass Rusty ihr wirklich helfen würde, doch vielleicht hatte er auch schon alles getan, was er tun konnte.
Sie zerriss die Karte in Schnipsel und spülte sie im Klo herunter. Sie musste mehrfach spülen, die Rohre waren nicht so toll. Und während sie dastand und immer wieder die Toilettenspülung betätigte, wurde ihr plötzlich klar, dass im Juni 1968 ihr Vater am Leben war, er war, genauso wie sie jetzt, ein Teenager auf den Keys.
Achtzehn
Die nächsten drei Tage verdrängte der Medienrummel, der auf die Entdeckung der Kinderleichen folgte, Dutzende anderer Geschichten aus den Nachrichten und platzierte Shepard genau dort, wo er nicht sein wollte: im Rampenlicht. Doch er wusste auch, dass er die Medien jetzt brauchte. Denn je mehr über den Fall berichtet wurde, desto wahrscheinlicher war es, dass irgendwer, irgendwo Wheaton entdecken würde. Er sprach also mit den drei Networks, mit CNN, den Fox News und mit einem Dutzend Lokalsender. Larry King interviewte ihn per Satellit. Er drehte einen Bericht mit John Walsh und spazierte mit Jane Pauley über das Grundstück an der Savoy.
Das Leben der Eltern der verstorbenen Kinder hatte sich in einen Albtraum verwandelt, die Reporter und Sendewagen und Kameraleute hatten auf den Straßen vor ihren Behausungen und Arbeitsplätzen Einzug gehalten. Der Buchladen war seit zwölf Uhr am ersten Tag geschlossen, weil Nadines Telefon ständig klingelte und die Übertragungswagen es den Kunden schwer machten, überhaupt in den Laden zu gelangen.
Sheppard besprach sich regelmäßig per Telefon oder E-Mail mit Tina Richmond, er hoffte auf eine eindeutige Identifikation der Leichen. Er wusste, dass es die Spurensicherung einige Zeit kosten würde, die Überreste der Kinder zu identifizieren, doch ängstliche Eltern standen ihm auf den Zehen, sein Handy klingelte andauernd, und er rang mit seinen eigenen Dämonen, seinen eigenen Fragen, ob Annies Leiche zu denen in den Gräbern gehörte.
CNN brachte regelmäßig aktuelle Berichte über die Ermittlung und zeigte Fotos der fünf Kinder sowie von Wheaton und Mira. Julia Lenier, die ehemalige Mrs Wheaton, hatte mehrfach angerufen, getobt und ihm zum Vorwurf gemacht, dass die Übertragungswagen des Fernsehens sie zu einer Gefangenen in ihrem eigenen Heim machten.
Ihr Mann, der arrogante Steven Nymes, rief an, um Sheppard mitzuteilen, dass er ihn verklagen würde. Sheppard nannte ihm die Nummer der Anwälte seiner Behörde und legte auf.
An diesem Morgen hatte Sheppard sein Handy ausgeschaltet und nutzte ein Handy mit einer Prepaidkarte und ohne Nummernanzeige. Bloß drei Leute hatten seine Nummer – Goot, Tina Richmond und Nadine. Als es klingelte, dachte er also, dass es einer von ihnen sei. Stattdessen sagte Doug Emison, der Polizeichef: »Shep, John hat mir deine neue Nummer gegeben. Ich hoffe, das ist in Ordnung.«
»Klar, was ist los?«
»Ich weiß, dass du im Moment viel zu tun hast, aber könntest du dich mit mir unten am Tango Sea and Air treffen?«
»Ich bin nicht weit weg. Ich kann vorbeikommen. Haben deine Suchmannschaften etwas gefunden?«
»Ich erzähl’s dir, wenn du hier bist.«
Ein geheimnisvoller Südstaaten-Spezi, dachte Sheppard, als er das Gespräch beendete. Er wendete mitten auf der Straße und bog drei Minuten später auf den Parkplatz ein. Emison und ein anderer Mann standen auf dem Pier neben drei rot-blauen Wasserflugzeugen, die brandneu aussahen.
Sein Begleiter war etwa eins fünfundachtzig groß und gut gebaut,
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