Die Staatskanzlei - Kriminalroman
Untätigkeit von Behörden zum Mörder wird und zwei Beamte erschießt. „Und falls doch“, meinte ein Beamter, „geschehen solche Taten im Affekt. Und in unserem Fall waren die Morde sorgfältig geplant.“
Die vom Direktor beschlossene Hinzuziehung eines Fallanalytikers aus Hamburg stieß auf wenig Begeisterung. Man ließ sich nicht gerne in die Karten schauen, schon gar nicht von einem Kriminalpsychologen aus der Hansestadt. Die Hannoveraner schätzten die Hanseaten nicht besonders, hielten sie für hochnäsig. Es ärgerte sie, stets als kleiner Bruder der Weltstadt Hamburg angesehen zu werden. Nur Petra Schramm gab sich euphorisch. „Ein Profiler aus Hamburg? Klasse.“
Verena lächelte verhalten, obwohl ihr nicht danach zumute war. Die Mordfälle und die ständigen Rückschläge zerrten an ihrem Nervenkostüm. Wenn sie nicht bald einen Durchbruch erzielten, würde sie den Direktor bitten, jemanden anderen mit der Leitung der Soko Heise zu beauftragen. Vielleicht ließ nicht nur ihr Äußeres nach, vielleicht blieb auch ihr kriminalistisches Spürsinn auf der Strecke. Ihre Freundin Dagmar hatte es auf den Punkt gebracht. „Wenn du erst mal vierzig wirst, ist der Lack ab“, hatte sie ihr bei Kaffee und Kuchen um die Ohren gehauen und Verena ins Grübeln gebracht. Acht Monate Galgenfrist blieben ihr noch.
Den restlichen Tag verbrachte Verena am Schreibtisch: Telefonate führen, Mails und Berichte lesen.
Am späten Abend, sie wollte gerade zu Bett gehen, rief die Nachbarin ihrer Mutter an. Ihre Mutter hatte die Herdplatte angestellt und vergessen, sie auszuschalten. Fast hätte es einen Wohnungsbrand gegeben. „Sie müssen sich um Ihre Mutter kümmern. Wenn Sie sie nicht zu sich nehmen können, sollten Sie sich nach einem Heimplatz für sie umgucken. So geht es nicht weiter!“, hielt ihr die Frau vor.
Vorwürfe, immer nur Vorwürfe. Hielt das Leben nichts anderes mehr für sie bereit? Verena versprach, am Wochenende nach Osnabrück zu kommen.
Sie sprach Dagmar eine Nachricht auf die Mailbox. Das Nikolausturnier am kommenden Samstag würde ohne sie stattfinden müssen. Verena hatte sich darauf gefreut. Das Wetter war zwar miserabel, die Platzverhältnisse vermutlich ebenso, aber sie wäre auf andere Gedanken gekommen. Zumindest für einige Stunden hätte sie endlich einmal wieder am eigenen Leib erlebt, dass es ein Leben auch jenseits von Mord und Totschlag gab. Auch in dieser Nacht träumte sie wieder von Heise. Er redete mit Händen und Füßen auf sie ein, aber wie beim letzten Mal konnte sie ihn auch dieses Mal nicht verstehen.
52
„Zu blöd auch“, schimpfte Wagner laut vor sich hin. So behutsam er sich auch auf die Badezimmerwaage stellte, krampfhaft bemüht, die Luft anzuhalten, um die Waage möglichst wenig zu belasten, das Miststück zeigte sich von seiner unerbittlichen Seite: zweiundneunzig Kilo, bei seiner Größe fünfzehn Kilo zu viel. Vielleicht geht sie nicht richtig, tröstete er sich, wohl wissend, dass das nicht der Fall war. Die Waage war nagelneu.
Leider gehörte er nicht zu den glücklichen Zeitgenossen, bei denen Aufregung die Kilos purzeln lässt. Im Gegenteil, bei Stress schrie sein Körper förmlich nach Süßigkeiten: Schokolade, Pralinen, Kekse und Mandelhörnchen mit möglichst dickem Schokoladenüberzug. Heute Nachmittag hatte er gleich drei davon vertilgt. Nervennahrung für ihn. Er schob die Waage beiseite. Bis Weihnachten würde er sie nicht mehr benutzen. Im neuen Jahr würde er sich einer knallharten Diät unterziehen. Und dieses Mal würde er durchhalten.
Er war hundemüde und beschloss gegen neun Uhr, schlafen zu gehen. Ein Anruf machte ihm einen Strich durch die Rechnung. Der Ministerpräsident forderte ihn ziemlich brüsk auf, umgehend in die Staatskanzlei zu kommen. Es gab Wichtiges zu besprechen. Vielleicht haben sie eine neue Spur, hoffte Wagner. Draußen hatte es erneut geschneit. Die glatten Straßen zwangen ihn, langsam zu fahren. Bis auf das Büro des Ministerpräsidenten im ersten Stock waren alle Büros dunkel. Der Ministerpräsident war nicht allein. Seine Sekretärin wirkte übermüdet. Dass auch der Innenminister bei ihm war, hielt Wagner für ein gutes Omen. Mit einer ungeduldigen Geste forderte der Ministerpräsident ihn auf, Platz zu nehmen. Die Politiker unterhielten sich über einen Mann namens Boris Milner.
„Was wissen Sie denn nun über ihn?“, wollte Wagners Chef wissen.
Innenminister Krause beachtete Wagner nicht weiter und gab die
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