Die Stadt und die Sterne - Mit einem Vorwort von Gary Gibson
waren nur die abgetrennten Stümpfe der großen Straßenverbindungen. Das seltsame Material, das ihnen Leben verlieh, war jetzt wie erstarrt. Bei der Anlage des Parks war der Knotenpunkt des Fließstraßensystems zwar begraben, aber nicht zerstört worden.
Alvin ging auf einen der Stollen zu. Nach wenigen Schritten bemerkte er, dass sich der Boden unter seinen Füßen veränderte. Er wurde durchsichtig. Einige Schritte weiter schien er ohne sichtbaren Halt mitten in der Luft zu schweben. Er blieb stehen und starrte in die Leere hinunter.
»Khedron!«, rief er. »Kommen Sie und sehen Sie sich das an!«
Der Spaßmacher gesellte sich zu ihm; gemeinsam blickten sie auf das Wunder zu ihren Füßen. Verschwommen sichtbar, in unbestimmbarer Tiefe, lag eine riesige Landkarte – ein großes Netz aus Linien, die in einem Punkt unter dem Schacht zusammenliefen. Sie starrten eine Weile schweigend darauf; dann sagte Khedron ruhig: »Ist dir klar, was das bedeutet?«
»Ich glaube schon«, erwiderte Alvin. »Das ist eine Karte des gesamten Transportsystems, und diese kleinen Kreise bezeichnen die anderen Städte der Erde. Neben den Kreisen stehen Namen, aber sie sind zu weit entfernt, als dass ich sie lesen könnte.«
»Es muss irgendeine Innenbeleuchtung gegeben haben«, sagte Khedron abwesend. Er folgte den Linien der Karte mit seinen Augen bis zu den Wänden vor ihnen.
»Ich hab’ es mir gedacht!«, rief er plötzlich. »Siehst du, wie diese strahlenförmigen Linien zu den kleinen Stollen führen?«
Alvin war aufgefallen, dass neben den großen Bögen der Fließstraßen unzählige kleinere Tunnel aus ihrer Höhle hinausführten – Tunnel, die eigenartigerweise nach unten führten, nicht nach oben.
Ohne eine Antwort abzuwarten, fuhr Khedron fort: »Man kann sich kaum etwas Einfacheres vorstellen. Die Leute, die von den fließenden Straßen herunterkamen, wählten den Ort aus, den sie besuchen wollten, indem sie einfach der entsprechenden Linie auf dieser Karte folgten.«
»Und was geschah dann?«, fragte Alvin.
Khedron schwieg; er starrte auf die geheimnisvollen Tunnel, dreißig oder vierzig Öffnungen, die einander völlig glichen. Nur die Namen auf der Karte hätten es ermöglicht, zwischen ihnen zu unterscheiden; aber diese Namen waren nicht mehr zu entziffern.
Alvin hatte sich entfernt und war hinter die Mittelsäule getreten. Von dort ertönte seine Stimme, etwas gedämpft und von den Wänden der Untergrundkammer widerhallend.
»Was ist?«, rief Khedron, der seinen Platz nicht verlassen wollte, weil es ihm beinahe gelungen war, eine der schwach erleuchteten Buchstabengruppen zu entziffern. Aber Alvins Stimme hatte drängend geklungen; er ging zu ihm hinüber.
Tief unter ihnen lag die andere Hälfte der großen Landkarte. Hier jedoch war nicht alles unleserlich; eine der Linien – eine einzige – war strahlend hell erleuchtet. Sie schien mit dem übrigen System nicht verbunden zu sein und führte wie ein schimmernder Pfeil zu einem der nach unten führenden Tunnel. Kurz vor dem Tunneleingang wurde die Linie zu einem goldenen Lichtkreis, und neben diesem Kreis stand ein einziges Wort. Lys – das war alles.
Lange starrten Alvin und Khedron auf das Zeichen. Für Khedron war es eine Herausforderung, die er, wie er wohl wusste, niemals annehmen konnte – und deren Existenz er am liebsten überhaupt nicht zugegeben hätte. Aber für Alvin konnte sie die Erfüllung seiner Träume sein. Obwohl er mit dem Wort überhaupt nichts anfangen konnte, rollte er es im Mund und genoss den exotischen Geschmack der einzelnen Silbe: Lys. Das Blut pochte in seinen Adern, und seine Wangen waren wie von Fieber gerötet. Er sah sich in der großen Höhle um, versuchte sich vorzustellen, wie sie in den alten Tagen ausgesehen haben mochte, als zwar die Luftfahrt zu Ende gegangen war, die Städte der Erde aber noch miteinander in Verbindung gestanden hatten. Er dachte an die unzähligen Millionen Jahre, in denen der Verkehr immer mehr abgenommen hatte und die Lichter auf der Karte nacheinander erloschen waren, bis schließlich nur noch diese einzige Linie übrig geblieben war. Wie lange hatte sie wohl unter ihren verdunkelten Genossen geleuchtet, wie lange darauf gewartet, die Schritte zu lenken, die niemals kamen, bis Yarlan Zey die Fließstraßen versiegelte und Diaspar gegen die Welt abschloss?
Und das war vor tausend Millionen Jahren gewesen. Schon zu dieser Zeit musste Lys die Verbindung mit Dia spar verloren haben. Es schien
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