Die starken Fesseln der Sehnsucht: Roman (German Edition)
die freiesten Menschen der Welt«, stimmte der andere ihm freundlich zu. Seiner Kleidung nach hätte er ein Hafenarbeiter sein können. »Wir Engländer haben unsere Rechte, selbst der Geringste von uns allen.«
»Aber einige haben mehr Rechte als andere«, warf ein anderer Mann ein. »Warum sollte nicht jeder anständige Arbeiter wählen können? Warum nur Grundbesitzer?«
Die anderen in der Gruppe lachten. »Du hast vielleicht komische Ideen, Tom«, meinte einer. »Nur Leute mit Geld sind die, die wirklich zählen.«
»Wenn sich genug von uns dagegen wehren, wird sich das schon ändern«, beharrte Tom.
»Als Nächstes wird Tom noch sagen, dass auch Frauen wählen sollten.« Die Bemerkung löste schallendes Gelächter aus, gefolgt von einer lebhaften politischen Debatte. Nikolai hielt sich mit Äußerungen zurück, aber es beeindruckte ihn, wie sachkundig sogar die am einfachsten Gekleideten sich auszudrücken wussten.
Sein Gesichtsausdruck war nachdenklich, als er ging und Jean in dem Buchladen an der nächsten Straße abholte. »Jetzt verstehe ich, warum du mich in das Kaffeehaus geschickt hast. Sind alle Engländer so unabhängig und gut informiert?«
»Nicht unbedingt.« Sie nahm seinen Arm, um zu ihrem Gasthaus zurückzugehen. »Kaffeehäuser ziehen vor allem jene an, die gern diskutieren. Die einzelnen Kaffeehäuser haben allerdings unterschiedliche Gäste - es gibt eines namens Lloyds, wo sich Männer treffen, um Schiffsversicherungen abzuschließen. Schiffskapitäne gehen gewöhnlich in ein anderes Kaffeehaus. Für Gäste, die nur trinken wollen, gibt es unzählige Tavernen und Ginhäuser.«
»Ich war erstaunt über die aufrührerische Sprache in den Zeitungen. In Paris würden die Herausgeber alle im Gefängnis landen.«
Jean zog die Brauen hoch. »Ich wusste nicht, dass die Franzosen die Presse so scharf kontrollieren. Beschwerden über die Regierung sind hier etwas ganz Normales.«
»Sind Schotten auch so auf ihre Rechte bedacht?«
»Schotten sind genauso freiheitsliebend, aber es gibt gewisse Unterschiede.« Jean grinste. »Die Engländer beklagen sich über die Regierung, während die Schotten sich über die Engländer beklagen.«
»Dieser unabhängige Geist könnte der Grund sein, warum die Abolition hier Fuß fasst«, sagte er nachdenklich. »Genauso wie die Furcht, gewaltsam in den Dienst der Marine gestellt zu werden, beim gewöhnlichen Volk mehr Sympathie für die Sklaven wecken könnte. Wenn wir noch weiter in der Zeit voranreisen, wird es interessant sein zu sehen, wie britische Vorstellungen sich entwickeln.«
»›Interessant‹ ist eins dieser auf fast alles anwendbaren Wörter«, bemerkte sie. »Seit ich dir begegnet bin, ist mein Leben ›interessant‹ geworden. Ich bin mir nur nicht sicher, wie viel mehr davon ich noch ertrage.«
Nikolai schenkte ihr ein mutwilliges Lächeln. »Würdest du lieber wieder zur Londoner Gesellschaft gehören, dein Haar pudern und zu viele Veranstaltungen besuchen?«
»Eines Tages ja.« Ein Lächeln erhellte ihre Augen. »Aber nicht gerade jetzt.«
Zugang zu Falconer House zu erlangen, war nicht leicht für einen Fremden, der nur wenig über sein Begehr sagen konnte. Nikolai hatte seine beste Kleidung angelegt, während Jean in einem Gebrauchtwarenladen ein schwarzes Trauerkleid mit Haube und Schleier gekauft hatte, der so dicht war, dass selbst Nikolai sie kaum erkannte.
Wie vorher besprochen, übernahm Nikolai das Reden, um ihnen Einlass in die Mayfair'sche Residenz der Falconers zu verschaffen. Jean blieb still, doch Nikolai spürte, dass sie ihre Magie benutzte, um den Butler nachgiebig zu stimmen und den Mann zu überzeugen, dass Lord Falconer die Fremden würde sehen wollen.
Falconer wusste es auch. Als Nikolai und Jean in ein elegantes Arbeitszimmer geführt wurden, blickte der Earl mit einem gefährlichen Glitzern in den Augen auf. »Wie interessant, dass Ihr Magie benutzt habt, um meinen Butler dazu zu bringen, Euch einzulassen, Mr. Gregory. Ich verlasse mich darauf, dass Ihr mit Eurem Anliegen nicht meine Zeit vergeuden werdet.«
Jean hatte Nikolai gewarnt, dass der Earl einer der scharfsinnigsten Männer Englands war. Falconers Alter war schwer zu erraten, aber er musste jetzt etwa um die fünfzig sein. Er hatte feine Linien um Augen und Mund, doch er war schlank und beweglich. Zuerst dachte Nikolai, er trüge eine Perücke, aber dann merkte er, dass es sein natürlich blondes, mit Silberfäden durchsetztes Haar war. Er war vom
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