Die starken Fesseln der Sehnsucht: Roman (German Edition)
»Glaubst du, sie wird durchgehen?«
»Ich bin mir nicht sicher«, erwiderte Buckland langsam. »In den letzten drei Jahren hat sich viel verändert. Die Antisklaverei-Gesinnung ist zu einem regelrechten Fieber in der breiten Öffentlichkeit geworden.«
»Gut!«, rief Jean. »Falls das Parlament nicht zustimmt, ist es Zeit für neue Abgeordnete.«
»Abgeordnete können ausgetauscht werden, aber nicht das Oberhaus.« Buckland runzelte die Stirn. »Der heutige Ausgang ist sehr unsicher, weil der politische Wind sich dreht. Wenn der Gesetzentwurf heute nicht durchgebracht wird, könnte es für lange Zeit keine Möglichkeit mehr dazu geben.«
»Wieso nicht?«, fragte Nikolai mit einem unguten Gefühl.
Buckland befingerte nervös die lederne Aktentasche neben sich. »In Frankreich findet eine Revolution statt, ein Volksaufstand für die Freiheit ähnlich dem der amerikanischen Revolution. Zuerst waren fortschrittlichere Briten optimistisch, dass die Nation dadurch gerechter und demokratischer würde, doch die französische Revolution scheint fehlzuschlagen. Die besten Seher der Wächter glauben, dass dem Land ein Bürgerkrieg bevorsteht. Angesichts der chaotischen Situation in Frankreich sind die konservativen Kräfte Englands sehr im Aufschwung. Niemand will das Gesellschaftssystem hier zerfallen sehen.«
»Das ist verständlich«, stimmte Jean ihm zu. »Chaos nützt nur den Gewaltbereiten. Aber solche Ängste können nicht gut für die Abolition sein.«
Buckland nickte. »Erschwerend kommt hinzu, dass sich die Sklaven auf der westindischen Insel Dominica gegen ihre Herren erhoben haben. Die Pro-Sklaverei-Kräfte in England argumentieren, dass eine Beendigung des Sklavenhandels eine Katastrophe wäre und noch mehr Unruhe erzeugen würde, die alle Europäer in Amerika gefährden würde.«
Nikolais dunkle Brauen fuhren hoch. »Damit will man doch wohl nur Angst schüren.«
Buckland verzog den Mund. »Die Vernunft hat keine Chance gegen die Furcht der Menschen. Es ist bemerkenswert, wie viele Leute angefangen haben, die Abolition zu unterstützen, obwohl sie keine direkte Erfahrung mit der Sklaverei haben. Aber die Revolution in Frankreich und die Angst davor in England sind sehr nah und alarmierend. Es scheint den Leuten jetzt wieder das Sicherste zu sein, größere Veränderungen zu vermeiden.«
»Und deshalb könnte es Jahre dauern, bis das Abolitionsgesetz wieder ernsthaft in Betracht gezogen wird, falls die Abstimmung darüber heute scheitert«, fasste Jean bedrückt zusammen.
»Genau. Und selbst wenn es heute im Unterhaus durchgeht, müsste es noch vom Oberhaus und dem König abgesegnet werden, was diese sehr wohl ablehnen könnten. Aber ein Erfolg im Unterhaus wäre immerhin schon ein großer Schritt in die richtige Richtung.«
Nikolai schloss die Augen und konzentrierte sich auf die von der Londoner Bevölkerung erzeugten Energien. »Ich kann die Furcht und den Konservatismus spüren, die du beschrieben hast, Buckland, und wie diese Gefühle schon jetzt die Einstellung der Leute zu der Sklaverei beeinflussen. Aber ich glaube, dass wir heute trotzdem eine Chance haben, wenn unser Sicherheitsnetz nur stark genug ist, um den Dämon in Schach zu halten.«
Buckland machte ein nachdenkliches Gesicht. »Das könnte erklären, warum ihr hierher gebracht wurdet. Wir haben das Netz problemlos aufrechterhalten, und keine prominenten Abolitionisten sind gestorben. Doch keiner von uns kann so gut mit diesem Netz umgehen wie ihr, vielleicht, weil ihr es geschaffen habt. Die Befürworter der Sklaverei sind sehr geschickt darin gewesen, Verzögerungen zu bewirken, indem sie ständig mehr Beweise und mehr Anhörungen verlangten und behaupteten, es gäbe nicht genug Informationen. Es hat drei Jahre gedauert, das Gesetz zur Abstimmung zu bringen. Vielleicht seid ihr erschienen, um durch eure Macht über das Schutznetz die Entscheidung zu unseren Gunsten zu beeinflussen.«
Nikolai wechselte einen Blick mit Jean und sah, dass sie genauso unsicher war wie er. »Wir können es natürlich versuchen. Aber wohin fahren wir eigentlich?«
»Zum Parlament. Ich kenne dort eine ungestörte kleine Loge, von der aus ihr die Vorgänge verfolgen könnt, ohne befürchten zu müssen, gesehen zu werden.« Buckland seufzte. »Die Chancen stehen nicht sehr gut, aber dass ihr hier seid, gibt mir doch ein bisschen Hoffnung.«
Die Kutsche hielt vor dem Westminster-Palast, dem Sitz des Parlaments. Jean zog den Schleier ihrer Haube über das
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