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Die Stimme

Titel: Die Stimme Kostenlos Bücher Online Lesen
Autoren: Judith Merkle-Riley
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Schrift! Hier und da konnte sie bereits ein, zwei Worte lesen, und das machte alles noch besser. Und wenn sie es sich laut vorlesen ließ, dann hörte es sich richtig an, ganz richtig. Vielleicht würde man es eines Tages lesen, und dann würde man verstehen, was sie sagen wollte und ihr keine Vorhaltungen machen, was sie eigentlich hätte sagen sollen. Und wenn das geschah, dann würde sich vielleicht etwas ändern. Oder vielleicht wäre es ja eine andere Welt. Eine Welt nämlich, in der die Menschen sich anhören wollen, was andere Menschen zu sagen haben, auch wenn sie keine Männer sind. Also wirklich, ja, dieses Mal hatte die Stimme aber eine sehr gute Idee gehabt.
    Mittlerweile war Bruder Gregory das Warten und Grübeln auf der Bank in der Diele leid. Die Arme auf dem Rücken verschränkt, die lange Nase vorgestreckt und witternd wie ein neugieriger Jagdhund, so strich er durch die Diele in Richtung Küche. Durch die offene Tür erhaschte er einen Blick auf eine Margaret mit großer Schürze, die eine Wanne voll eben abgeschnittener Kohlköpfe prüfte, welche dort im Wasser lagen, damit die Würmer herauskrochen. Margaret konnte Würmer in Äpfeln nicht ausstehen, biß auch nicht gern in bereits gekochte im Kohl, obwohl sich nicht alle Leute so anstellten. Sie hatte den Kopf schiefgelegt und klopfte ungeduldig mit dem Fuß, während sie zusah, wie die Würmer langsam zur Wasseroberfläche hochstiegen. Eklige Dinger, dachte sie. Warum geht ihr nicht in anderer Leute Kohl, wieso in meinen?
    Da sieht man's wieder, dachte Bruder Gregory, gar nichts tut sie, sie will mich nur durch Warten reizbar machen. Doch als er über die Schwelle trat, krächzte eine heisere Stimme:
    »Diebe! Diebe an der Butter!«
    »Was um Himmels willen…?« entfuhr es Bruder Gregory unwillkürlich, und er blickte dorthin, woher die Stimme kam. Alle in der Küche sahen ihn an und grinsten.
    »Seht ihr? Ist er nicht einmalig?« fragte die Köchin glücklich und stützte die Hände in die Hüften. In einem großen Weidenkorb, der außer Reichweite der Katze von der Decke herabhing, konnte Bruder Gregory ein Geflatter von schwarzen und weißen Federn sehen.
    »Die Elster gehört unserer Köchin«, erklärte Margaret und wischte sich die Hände an der Schürze ab. Bruder Gregory wirkte nicht mehr ganz so verstört. »Sie warnt unsere Köchin, wenn jemand sich in die Küche schleichen und Pasteten stehlen will, die sie zum Abkühlen hingestellt hat. Sie hat die Elster just von ihrer Schwester geschenkt bekommen, weil deren Mann sie nicht ausstehen konnte. Wir finden sie alle sehr klug.« Bruder Gregory musterte das Geschöpf kritisch. Der Vogel pfiff fröhlich, dann gab er ein gurgelndes Geräusch von sich, das sich wie Wasser anhörte. Widernatürlich, dachte Bruder Gregory.
    Während Margaret aufräumte und die Schürze abband, starrte Bruder Gregory verdrießlich in die Wanne voll Kohl, die Margaret anscheinend so in Bann geschlagen hatte. Das Wasser wimmelte von schwimmenden Kohlwürmern. Noch widernatürlicher, dachte Bruder Gregory. Es schoß ihm durch den Kopf, daß Menschen, welche so banalen Sachen wie schlechtem Fisch oder Würmern im Kohl allen Ernstes Aufmerksamkeit schenkten, nicht zu ernstem Denken taugten. Es freute ihn, daß er endlich darauf gestoßen war, warum Frauen den Männern von Natur aus unterlegen sind. Das kam nämlich daher, daß sie an allem immer nur die Einzelheiten wahrnahmen und nicht das große Ganze sahen, zu dem eben diese Einzelheiten gehörten. Darum lag es auf der Hand, daß sie untauglich zu umfassenderem ethischen Empfinden und zu allgemeiner moralischer Entwicklung waren. Woraus wiederum folgte, daß sie um zu existieren, der Anleitung durch den Mann bedurften, wie ewige Kinder, nur eben gefährlicher, weil sie größer waren.
    Während Bruder Gregory auf diesem Zipfel Erleuchtung herumgrübelte, heiterte sich seine Laune auf. Das vermochte eine interessante Einsicht bei ihm zu bewirken. Er gefiel sich so sehr in diesem Gedanken, daß er für den Rest des Tages vergaß, Margaret wegen ihrer empörenden Rechtschreibung anzublaffen, und nicht einmal dann etwas Sarkastisches sagte, als ihr Hund während des Unterrichts die Tür mit der Schnauze aufstieß und erwartungsvoll neben ihr stand, daß sie ihn streichelte, wozu sie aber keine Zeit hatte. Und dabei forderte Margarets Hund den Spott geradezu heraus, wie nach Bruder Gregorys Meinung jedes Geschöpf ohne erkennbare Augen, bei dem vorn und hinten mehr

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