Die Strasse ohne Ende
einzigen Nacht erheben. Es gäbe den größten Volksaufstand seit Menschengedenken. Indochina wäre ein Spaziergang dagegen! Es würde ein neuer Brandherd entstehen, der niemals zu löschen wäre! Und alles nur, weil wir in El Hamel eindringen!«
»Aber das ist doch Irrsinn!« Dr. Handrick schrie. Er ließ sich auch nicht von Dr. van Behl beruhigen, der ihm die Hand auf die Schulter legte. »Im zwanzigsten Jahrhundert ist es also möglich, einen Menschen zu entführen. Man weiß, wo er gefangengehalten wird, man könnte ihn befreien, es wäre sogar eine Leichtigkeit – aber man tut es nicht, man darf es nicht aus religiösen Rücksichten! Das ist doch Mittelalter, finsteres Mittelalter!«
»Das ist Afrika«, sagte Dr. van Behl leise.
»Dann gehe ich allein nach El Hamel«, brüllte Dr. Handrick. Er war außer sich; er war nicht mehr imstande, klar zu denken. Er steckte die Parabellum in die Tasche und wandte sich ab.
Dr. van Behl hielt ihn fest. »Wohin?«
»Nach El Hamel.«
»Das ist doch Irrsinn, Handrick!«
»Nicht irrsinniger, als diese Welt schon ist! Wenn das Militär zu feig ist, einen Menschen zu befreien, dann gehe ich allein!«
»Wir sind nicht zu feig.« Der Offizier schob das Käppi in den Nacken. »Es geht einfach nicht, weil Millionen Moslems dann gegen uns sind. Der ganze Orient würde aufflammen, wenn es heißt: Die Ungläubigen haben die heilige Stadt El Hamel gestürmt! Der Marabut würde zum heiligen Krieg aufrufen. Wir verlören Nordafrika … Ich glaube, der Einsatz ist zu groß: Afrika gegen ein einziges Mädchen.«
Dr. Handrick preßte die Lippen aufeinander. »Das soll also heißen: Sie opfern das Mädchen dem Staatsinteresse! Sie verzichten auf einen Menschen! Sie geben ihn auf!«
»Ja.«
»Dieses Ja werde ich nie vergessen«, sagte Dr. Handrick leise. »Dieses Ja werde ich mit mir tragen, solange ich lebe! Es ist das Ja der modernen Zeit, in der ein Mensch eine Null ist, wenn es um den Staat geht, aber eine verdammt wichtige Zahl, wenn es für den Staat geht! Ich möchte vor Ihnen ausspucken, Herr Hauptmann!«
Der Offizier hob beide Arme. »Ich kann es nicht ändern. Ich habe meine Befehle! Auch in Paris wird man es Ihnen sagen: Ein Mensch ist nichts im Vergleich zu den Tausenden von Toten, die seine Befreiung kosten würde. Es geht hier um die höhere Vernunft.«
»Nein! Es geht um ein Mädchen!« schrie Dr. Handrick. »Ich werde mich an meinen Konsul wenden.«
»Das steht Ihnen frei.«
Der Offizier wandte sich ab. Aus den Häusern rannten Soldaten und meldeten, daß die Wohnungen verlassen seien und nirgends eine Spur zu entdecken sei.
»Wir fahren zurück!« rief der Offizier. »Die Wachen werden eingezogen! Alles sammeln!«
Hell klangen die Clairons durch die sternklare Nacht.
Allein stand Dr. Handrick in dem Hof. Der Neger hatte sich in der Scheune verkrochen, Dr. van Behl wartete an der Tür auf Dr. Handrick. Er sah sich noch einmal um. In seinem Herzen lag die Kälte der Nacht. Es war, als sei sein Blut aus Eis.
Verloren! Ein Mensch darf nicht mehr frei sein, weil es Religion und Politik verbieten! Und es gibt keine Macht auf dieser Erde, die diesen Menschen retten könnte, dieses zarte Mädchen in El Hamel, der heiligen Stadt des Marabut, der weißen Burg auf den Felsen der Sahara, dem Mekka der Wüste.
Die Vernunft gab dem Offizier recht, der draußen seine Soldaten sammelte. Um einen Menschen zu retten, würden Ungezählte sterben müssen, würde Afrika ein Schlachtfeld werden wie Indochina oder Korea. Wegen eines Mädchens würden Tausende von Müttern weinen, Väter, Söhne, Brüder, Schwestern, Frauen und Kinder.
Mit gesenktem Kopf schlich Dr. Handrick aus dem Hof, vorbei an Dr. van Behl, der nicht wagte, ihn anzusprechen. Er ging zu dem Wagen, stieg ein und verbarg das Gesicht in den Händen. Leise setzte sich Dr. van Behl neben ihn und fuhr schnell von dem wieder in tiefer Dunkelheit liegenden Hof weg. Er lenkte den Wagen auf die Straße und raste durch die Nacht nach Laghouat.
Durch Dr. Handricks Körper ging ein Zittern. Er legte die Hand auf den Arm Dr. van Behls. »Begreifen Sie das alles?« stammelte er. »Ist das nicht alles ein Traum? Ein schrecklicher Traum? Kann man denn einfach einen Menschen aufgeben?«
»Man muß es«, sagte Dr. van Behl leise.
»Ich hasse dieses Afrika! Ich werde es bis an mein Ende mit Haß und Fluch verfolgen!«
Dr. van Behl nickte. Er legte den Arm um Dr. Handricks zuckende Schulter und drückte ihn an sich. »Die Zeit
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